Der Fortsetzungsroman: Kapitel 6: Hundert Seiten Liebesbriefe
Manchmal grabe ich in den alten Dokumenten meiner Großmutter. Sie riechen nach Dachboden, das Papier ist brüchig.
Gestern habe ich mein Zimmer aufgeräumt. Das passiert nicht häufig, deshalb verkünde ich es jedes Mal im Internet. „Ich räume gerade auf“, hab ich getwittert, „Applaus bitte!“ Ja, Rampensau. Bin ich. Na und?
Vier Gutscheine hab ich gefunden. Zweimal Kino, einmal Therme, einmal Klamotten. Da sag noch einer, Ordnung sei nichts wert.
Unter einem Stapel Papier lag auch ein zehn Jahre alter Liebesbrief: „Grüßen möchte ich dich von ganzem Herzen, brennen tut das Feuer der Lust wie Omas Kerzen.“ Handschriftlich. Mit Zeichnungen. Wunderschön. Keine Ahnung, wie der da hingekommen ist.
Meine Großmutter hat immer gesagt, es gibt zwei Sorten Menschen: die ordentlich Unordentlichen und die mit der unordentlichen Ordnung.
„Die eenen legen immer allet auf Kante“, hat sie gesagt, „die finden nachher nischt mehr wieder. Bei den andern isset zwar nich wie jeleckt, aber gut organisiert.“
Als Mütterchen schon über neunzig war, haben wir ihr eine neue Putzfrau organisiert. Die alte hat einfach nicht mehr sauber gemacht, sondern nur noch mit Mütterchen Kaffee getrunken und Schnittmuster getauscht. „Kann’se ja machen“, hat Tante Erna gesagt, „aber dafür müssen wir sie nich bezahlen.“ Meine Großmutter hat protestiert. Saß in ihrem Sessel und schlug die Hände überm Kopf zusammen: „Nun lasst mir doch die einzige Freiheit, die ich habe!“, hat sie gerufen. Melodrama. Alte Schule. Die neue Putzfrau hat zwar endlich mal die ganzen Stecknadeln vom Teppichboden weggesaugt, aber sie hat auch Mütterchens Sachen weggeräumt. Auf Kante. Unauffindbar.
Es ist eine Systemfrage. Oder der theoretische Überbau für die eigene Schlampigkeit. Mir kommt das sehr gelegen.
Im Zuge meiner Aufräumarbeiten hab ich auch die beiden Koffer wieder vorgeholt, die bei meinem Freund im Zimmer unterm Bett lagern. Zwei Reisekoffer voll mit Fotoalben, vergilbten Briefen, Reisetagebüchern, Theater-Programmheften, Filmdrehbüchern, Zeugnissen. Mütterchens Nachlass.
Manchmal grabe ich in den alten Dokumenten. Sie riechen nach Dachboden. Das Papier ist brüchig. Nach Themen in Plastiktüten geordnet. Eine Tüte „Zelten in Bakenberg“. Eine Tüte „Faust II am DT“.
Letzten Winter saß ich drei Monate am Rechner und habe die Liebesbriefe abgetippt, die mein Großvater meiner Großmutter zwischen Anfang Dezember 1944 und Ende März 45 geschickt hat. Er war damals unter der Bezeichnung „privilegierter Mischling ersten Grades“ in einem Arbeitslager der Organisation Todt in Jena interniert. „Der hat in Jena Schott und Zeiss unter die Erde gebuddelt“, sagte Mütterchen immer. Ich habe das nie richtig verstanden. Irgendwas müssen sie am Stollen gearbeitet haben. Zum Kotzen schwere körperliche Arbeit. Der Mann war Philosophiestudent damals, 24 Jahre alt, Brillenträger, ein halbes Hemd. Der hat vorher und nachher nie wieder ein Werkzeug in die Hand genommen, das nicht zum Schreiben, Zigarettenanzünden oder Flaschenöffnen gedacht war.
Am Montag, dem 8. Januar 1945, schreibt er:
„Mein liebes Mädchen.
Dieser Vormittag dürfte an Scheußlichkeit alle Rekorde schlagen. Peter, Egon und ich waren noch vom Sonntag unausgeschlafen, hatten (wegen Erkältung von der blöden Nacht zum Sonntag vielleicht) wehtuende Bäuche – gleich alle drei – und dann, gegen 8 haute eine volle Lore kurz vorm Übergang in die horizontale Schlussruhe plötzlich wieder nach unten ab, ein Nürnberger unten sprang ungeschickt beiseite, und ihm wurde der ganze Kiefer zerschlagen. Zuerst wollte man Peter die Schuld geben, aber Christofzik wies nach, dass es ein Maschinendefekt war – wir blieben sogar weiter an der Winde. Aber da in den nächsten Tagen alle Leute unter 40 Jahren, die nicht Brillenträger sind (das rettet mich, in weiser Ahnung hatte ich’s ja auch im Dienstbuch der OT vermerken lassen), in den Stollen kommen, wird der Verein [der Philosophenfreundeskreis, den mein Großvater im Lager begründet und geleitet hat] sicher bald gesprengt (Brillenträger kommen wegen Beschlagen der Gläser nicht herunter.) Das Wochenende wird aber hoffentlich noch mit der langen Freizeit zustande kommen. Jedenfalls brauche ich dich ziemlich heftig. Beim Anblick des gleich heraufgebrachten Schwerverletzten ist mir nach ziemlich kurzer Zeit schlecht geworden – war wohl auch Schuld des verdorbenen Magens.“
Ich habe meinen Großvater nie persönlich kennengelernt. Er starb, als ich noch ein Baby war. Jetzt suche ich ihn zwischen diesen engen Zeilen aus winzig kleinen Buchstaben. Schwarze Tinte auf vergilbtem Papier. „Ameisenkacke“ hat Mütterchen die Schrift ihres Mannes genannt.
Wie verliebt sie ineinander waren! Wie er sich an sie geklammert hat, seine „Juschka“. So hat er sie genannt. Und sie ihn „Sandy“. Meine Großmutter war für ihn die personifizierte Hoffnung, das fleischgewordene Leben außerhalb des Lagers. Die fleischgewordene Lebenslust auch. Das Briefeschreiben hat ihn durchhalten lassen, da bin ich sicher. In nur vier Monaten ist ein Textkorpus entstanden, der abgetippt fast einhundert Normseiten entspricht. Hundert Seiten nur Liebesbriefe an Mütterchen.
Ich hab die Koffer wieder unters Bett geräumt. Wenn sie zu lange bei mir im Zimmer stehen, rücken sie mir auf den Leib. Dann kann ich nicht mehr schreiben. Muss ständig lüften.
Jetzt sind sie geschlossen. Bis nächste Woche.
Auf Twitter hat jemand auf meinen Tweet geantwortet: „Klatsch, klatsch, klatsch, klatsch, klatsch, klatsch, klatsch, klatsch, klatsch, klatsch, klatsch, klatsch, klatsch, klatsch!“
Verbeugung. Kusshand. Ab.