Der Fortsetzungsroman: Kapitel 10: Brillenmarke Mütterchen
Gegen meine Oma war Daniel Düsentrieb ein Anfänger. Ich glaube, es hat damit zu tun, dass sie Hausarbeit verabscheute.
Tante Erna ruft an. „Hallo Kindchen!“, brüllt sie ins Telefon, „Wir sind hier in Basel. Geht’s euch gut?“ Ich bejahe. „Wir waren gerade im Vitra Design Museum“, erzählt sie aufgeregt. „Schön“, sage ich und halte das Smartphone ein wenig weg vom Ohr. „Pass ma auf“, sagt die Tante. (Wenn ihr was wichtig ist, sagt sie immer: „Pass ma auf.“) „Pass ma auf“, sagt sie, „Die Ausstellung hieß ’Repair‘. Die zeigen reparierte Sachen, und … “ Die Tante kichert vergnügt. „Na?“, sage ich. „Also in einem Raum…“, sie macht eine Kunstpause. „… da liegt eine Brille …“ Kunstpause. „… mit Schlüppagummi!!!“ Sie juchzt vor Freude. „Nein!“, sage ich. „Doch!“, jubelt Erna, „Wie bei Mütterchen!“
Meine Großmutter war eine begeisterte Tüftlerin. Kein Problem zu nichtig für eine Lösung und jede Lösung stets perfektionierbar.
Um nicht jeden Morgen einen neuen Löffel für die Marmelade dreckig machen zu müssen, schnitt sie Löcher in die Marmeladengläserdeckel, damit die Löffel einfach drin bleiben konnten und die Deckel trotzdem verschließbar waren – so verschließbar Marmeladengläser eben sind, die ein Loch im Deckel haben, aus denen seit fünf Tagen ein Löffel heraussticht. Zum Glück waren die Marmeladen im Osten so überzuckert, dass das Zeug nicht schimmelte. Es vertrocknete bloß. Durch die Luftzufuhr. Insofern war es auch egal, dass Mütterchen die Gläser – auch die offenen – nicht im Kühlschrank aufbewahrte, sondern in dem Hängeschrank darüber.
Gegen meine Oma war Daniel Düsentrieb ein Anfänger. Ich glaube, es hat damit zu tun, dass sie Hausarbeit verabscheute. Dieses sich ständig wiederholende Immergleiche. Das wollte sie durchbrechen. Unabhängig wollte sie sein.
Ich weiß noch, wie sie vor einer Chinareise ihren Tauchsieder präparierte. Sie hatte gehört, dass es in China Steckdosen gäbe, die nicht mit den deutschen Steckern kompatibel seien. Nun war aber Mütterchens wichtigstes Morgenritual der schwarze Tee mit Milch. Deshalb führte sie auf jeder ihrer zahlreichen Reisen stets einen Tauchsieder mit sich. So eine kleine Heizspirale, die man ins Wasser hält, bis es kocht. Frisst Strom wie die Weihnachtsbeleuchtung einer kompletten Weddinger Nebenstraße. Gefährlich ist es auch. Aber um solche Nebensächlichkeiten hat man sich im Osten keine Sorgen gemacht. Noch weniger, wenn man Ellis Heiden hieß und meine Großmutter war. Statt sich einen Adapter für chinesische Steckdosen zu kaufen, bastelte sie sich eine Konstruktion, dank derer sie den Tauchsieder über die Lampenfassung ihrer Nachttischlampe mit Strom versorgen wollte. Ja, die Lampenfassung! Sie hatte sich irgendwas zusammengelötet, mit dem sie wahrscheinlich das Hotel in Brand gesetzt hätte. Oder einen Stromausfall in ganz Peking verursacht. „Jugend forscht, oda watt?!“, hat Tante Erna gerufen und den Tauchsieder zum Müllschlucker getragen. Mütterchen war schwer beleidigt. Aber nicht lange. Ein wahrer Forscher lässt sich von solcherart Rückschlägen nicht vom Pfad der Weisheit abbringen.
Die Lesebrille jedenfalls war ihr Meisterstück. Simpel und genial. Meine Großmutter las am liebsten Kriminalromane. Agatha Christie, Georges Simenon, Sir Arthur Conan Doyle. Die Klassiker. Sie gab den Büchern sogar Zensuren. In jeden Krimi schrieb sie hinten eine Note zwischen Eins und Fünf. Dann wusste sie gleich, wenn sie es verleihen oder noch mal lesen wollte, ob ihr das Buch gefallen hatte oder nicht.
„Stell dir vor“, erzählte sie mir Anfang der Nullerjahre, „ick hab letztens den Poirot hier wiederjefunden.“ Sie hielt ein Buch in der Hand. „Konnt ick mich ja nich dran erinnern, den schon mal jelesen zu haben. Aber muss ick wohl.“ Sie schlug die letzte Seite auf. „Hat eine Drei minus jekricht beim letzten Mal. Dabei fand ick den jetze richtich jut. Hab ihm ne glatte Eins jejeben diesmal.“ – „Welcher isses denn?“, fragte ich neugierig. „Du lachst dich tot“, sagte sie und schob das Buch zu mir rüber. Auf dem Einband stand: „Agatha Christie: Die vergessliche Mörderin.“
Die Brille jedenfalls war so konstruiert, dass sie statt der Brillenbügel, die ja doch nur unbequem an den Ohren und an der Wange drückten, wenn man beim Lesen im Bett auf der Seite lag (wie Mütterchen es gerne tat); die womöglich sogar brachen, wenn man beim Lesen einschlief (wie es ihr mit zunehmendem Alter immer öfter passierte); statt dieser blöden Bügel hatte Mütterchen ein Schlüpfergummi an den Brillenrändern befestigt. So ein stinknormales Gummiband, wie man es in jedem Kurzwarenladen kaufen kann.
Wie Mütterchen auf die Idee gekommen ist? Vielleicht durch ein Missgeschick meines Großvaters ein halbes Jahrhundert zuvor.
Am 22. Mai 1944 schreibt mein Großvater um 23 Uhr aus dem Bahnhofswartesaal in Liegnitz, wo er auf dem Weg von Guben nach Goldberg umsteigen muss: „Falls du mein geistvolles Gesicht, als die Brille rausfiel, noch gesehen haben solltest, habe ich dir ja wenigstens noch eine Abschiedsfreude gemacht. Aus Sommerfeld ließ ich anrufen und bekam in Sagan die Nachricht, dass ’eine junge Frau in Hosen die Brille an sich genommen‘ hätte, und bejahte die Frage, ob die Dame meine Frau und die Sache somit in Ordnung wäre, natürlich strahlend.“
Ich stelle mir vor, wie die „junge Frau in Hosen“ die Brille aufhebt und dem abfahrenden Zug nachblickt. Wie sie die Brille in die Tasche steckt und auf dem Weg nach Hause wieder hervorholt, sie betrachtet, und plötzlich kommt ihr eine Idee …
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