Der Fall Andrea Ypsilanti: Die Provinzpolitikerin
Ypsilanti bescherte der SPD in Hessen ein Wahlergebnis, das den Parteichef zu einem drastischen Kurswechsel bewegte. Nun scheiterte der Versuch, mit links an die Macht zu kommen.
WIESBADEN taz Hätten ausschließlich die jungen Frauen unter dreißig in Hessen gewählt, dann säße Andrea Ypsilanti jetzt vermutlich nicht so tief in der Patsche. Dann gäbe es im Wiesbadener Landtag eine satte Mehrheit für Rot-Grün, und sie müsste nicht stehen hier im Kuppelsaal des Hessischen Landtags, fahrig, mitgenommen, nervös lächelnd.
Der Shootingstar: Im Spätsommer 2006 gibt Andrea Ypsilanti bekannt, sich als Spitzenkandidaten für die kommenden Landtagswahlen in Hessen bewerben zu wollen.
Im Dezember setzte sie sich gegen den Fraktionsvorsitzenden der Sozialdemokraten, Jürgen Walter, durch.
Der Aufstieg: Was keiner von der lange unbekannten Andrea Ypsilanti erwartet hatte:
Bei den Landtagswahlen am 27. Januar 2007 erzielte sie gegen den Hardliner Roland Koch eine Pattsituation. Die CDU verliert mit 12 Prozentpunkten drastisch. Die SPD kann mit 36,7 Prozent rund 7 Prozentpunkte zulegen; die Linke zieht mit sechs Abgeordneten erstmals in den Landtag.
Der Abstieg: Ypsilanti sondiert in Gesprächen mit den Grünen und den Liberalen die Möglichkeiten einer Ampelkoalition. Die FDP verweigert ihre Zusammenarbeit. Sie beruft sich auf Wahlversprechen. Ende Februar wird erstmals die Linke in Gespräche einbezogen. Am 4. März verkündet Ypsilanti ihre Bereitschaft, sich mit den Stimmen der Linken wählen zu lassen: ein Bruch ihres Wahlversprechens, niemals mit der Linken zusammenzuarbeiten. Drei Tage später verweigert die Abgeordnete Dagmar Metzger Ypsilanti ihre Stimme bei der Wahl zur Ministerpräsidentin. Ypsilanti wird sich nicht zu Wahl stellen.
Dabei lauert bei der Veranstaltung zum Internationalen Frauentag ausnahmsweise keine weitere unkalkulierbare Gefahr für sie, im Gegenteil, das Kimba Djembé Orchestra hat soeben einen Trommelwirbel ausgelöst "für eine, die sehr viel aushalten muss". Und jetzt zaubert auch noch Judith Pauly-Bender, die nette frauenpolitische Sprecherin der SPD-Landtagsfraktion, zwei Schokoladenhasen aus einem Beutel, einer in rotes Stanniolpapier eingewickelt, einer in grünes, und Andrea Ypsilanti tritt vor, und da umarmt Judith Pauly-Bender sie auch schon und ruft ganz arglos: "Wir wollen dir sagen: Sei kein Hase, Andrea!"
Es ist Donnerstagnachmittag kurz nach 16 Uhr, aber Courage für die anderntags angesetzten Verhandlungen um eine rot-grüne Minderheitsregierung ist zu diesem Zeitpunkt das am wenigsten Dringliche, was Andrea Ypsilanti braucht. Wer weiß schon, ob sie überhaupt noch stattfinden werden? Die grünen Landesvorsitzenden Tarek Al-Wazir und Kordula Schulz-Asche werden schon wenige Stunden später um eine Verschiebung bitten, am Freitag wird Ypsilanti selbst sie absagen. Aber das weiß sie zu dieser Zeit noch nicht. In der SPD werden unterdessen Rufe nach Neuwahlen laut. Spekuliert wird auch über den möglichen Rücktritt der SPD-Spitzenkandidatin.
Der Boden, auf dem Andrea Ypsilanti sich in wenigen Wochen zur Ministerpräsidentin lassen wollte, wankt. Der Grund: Am Vorabend, am späten Mittwoch, bekommt Andrea Ypsilanti einen Anruf. Es ist die Stimme der Landtagsabgeordneten Dagmar Metzger. Sie teilt ihr mit, dass ihr bei der Wahl zur Ministerpräsidentin eine Stimme aus der SPD-Fraktion fehlen werde. Die Stimme von Dagmar Metzger.
Deren Gewissen und deren Unverständnis für Ypsilantis Wortbruch, sich nun doch mit den Stimmen der Linken zur Ministerpräsidentin wählen lassen zu wollen, wögen stärker als Metzgers Parteidisziplin. Es ist die alles entscheidende Stimme, denn ein zweiter Mann aus der SPD-Fraktion wird eventuell auch nicht mitstimmen können, er ist schwer krank, und wenn nur zwei Stimmen fehlen, dann ist bereits die absolute Mehrheit futsch. Dann ist das umstrittene rot-grün-rote Projekt beerdigt, noch bevor es getauft wurde. Dann ist Andrea Ypsilanti nicht nur ihre größte Stärke los, die Glaubwürdigkeit, sondern auch ihre politische Zukunft.
Andrea Ypsilanti lässt sich nichts anmerken, sie drückt die beiden Hasen einem Mitarbeiter in die Hand; bis zu diesem Zeitpunkt am Donnerstag ist es ihr unter Mühen gelungen, das Desaster, vor dem die hessische SPD, der Bundesvorsitzende, die gesamte Partei jetzt durch eigene Schuld stehen, vor der Öffentlichkeit geheim zu halten. Sie hält eine kurze Rede in demselben kleinlaut-defensiven Ton, den sie seit Tagen anschlägt, sie jammert "Ich werde des Wortbruchs bezichtigt", so als sei sie unschuldig in ungeheuerlichen Verdacht geraten. Und dann entschuldigt sie sich mit Augen, in denen sich gleich Wasser sammelt, wenn sie jetzt nicht aufpasst, dass sie zugunsten politischer Inhalte "vielleicht" das Versprechen brechen werde, niemals mit den Linken zusammenzuarbeiten.
Vielleicht muss sie das nun gar nicht mehr. 22 Stunden später schon ist alles zu Ende, am Freitagmittag tritt Andrea Ypsilanti in Wiesbaden vor die Presse und verkündet ihren Verzicht: "Ich werde mich am 5. April nicht zur Wahl stellen." Sie könne nicht mehr für die Mehrheit garantieren. Weswegen Roland Koch bis auf Weiteres geschäftsführend im Amt des Ministerpräsidenten bleiben werde. Sie ist perfekt geschminkt; wenn ihr zum Heulen zumute ist, dann sieht man es jedenfalls diesmal nicht.
Die 50-jährige Andrea Ypsilanti, die noch zu Jahresanfang binnen Wochen vom politischen Nobody zum SPD-Star avancierte, zur großen linken Hoffnungsträgerin der Partei, kann jetzt wieder das sein, was sie am besten kann: eine Provinzpolitikerin der Herzen. Die Rolle der mit allen Wassern gewaschenen Regierungschefin, die in der hessischen Löwengrube bestehen will, zerrieben zwischen den Machtinteressen und Konflikten ihrer eigenen Partei einerseits und dem gnadenlosen PR-Apparat des Machtstrategen Roland Koch andererseits, diese Rolle liegt ihr nicht. An Rücktritt als SPD-Spitzenfrau, sagt sie trotzig, denke sie aber nicht: "Es gibt keinen Grund, die Flinte ins Korn zu werfen, nur weil ein Weg verbaut ist." Andrea Ypsilanti hat sich verschätzt. Oder, um es mit ihren Worten zu sagen: "Ich habe das nicht erwartet."
Sie sitzt jetzt am ovalen Tisch in ihrem Wiesbadener Büro, es ist immer noch Donnerstagnachmittag, die Botschaft ihrer gefährdeten Mehrheit hat zu diesem Zeitpunkt in den Nachrichtenagenturen noch nicht die Runde gemacht. Aber wie angeschlagen sie ist, klingt schon jetzt durch. Dass sie jemals in dieses Dilemma geraten könnte, das ihr jetzt das Genick zu brechen droht! Dass die FDP sie tatsächlich hängen lassen könnte! "Ich fand das unwürdig", sagt sie.
Unwürdig. Es ist keine politische Kategorie, aber es ist die Kategorie, in der Andrea Ypsilanti denkt. Im Wahlkampf brachten ihr dieses Unterteilen der Welt in Gut und Böse, diese Sicht auf die Politik als Haltung der persönlichen Empörung viele Sympathien. Jetzt werden die vermeintlichen Stärken zum Problem. "Andrea hat gedacht, dass sie da wie immer mit ihrer Unschuldsmiene rauskommt", schimpft eine sozialdemokratische Weggefährtin aus Hessen. "Sie hat nicht einkalkuliert, dass sie jetzt in einer anderen Liga spielt." Vielleicht auch, weil die anderen, ihre vermeintlichen Berater und Parteifreunde, untätig zusahen, wie sie sich mehr und mehr verrannte. Über die Vehemenz, mit der Ypsilanti eine Zusammenarbeit mit den Linken im Wahlkampf ausschloss, habe man sich schon gewundert, sagt heute einer ihrer angeblichen Unterstützer aus Hessen. Zumal doch Politik häufig anders funktioniere. Doch weil ihre Umfragewerte stiegen, weil es plötzlich reale Aussichten auf den lang ersehnten Machtwechsel gab, ließ man die Spitzenkandidatin weiterreden und Schritt für Schritt in die Glaubwürdigkeitsfalle tappen. Sie habe nichts von dem getan, was ihr jetzt unterstellt werde, beteuert derweil Andrea Ypsilanti in ihrem Büro: von Anfang an auf Wortbruch spekuliert, aus Egoismus und Machtversessenheit die Lüge einkalkuliert und die Wähler absichtlich betrogen. Vermutlich stimmt das sogar. Andrea Ypsilanti ging nicht deshalb zur Linken auf Distanz, weil sie deren politische Rückwärtsgewandtheit, deren Verständnis von Wirtschafts- und Sozialpolitik oder gar deren Kandidaten gefürchtet hätte. Sondern weil diese in ihren Augen Verräter sind. Die Linken, das sind für Andrea Ypsilanti diejenigen, die die Sozialdemokraten beschämt haben.
Dass ethische oder moralische Bedenken die SPD in ihrer Geschichte selten daran gehindert haben, politische Kompromisse zu schließen, hat Andrea Ypsilanti lange ausgeblendet. Ihre Entscheidung, ihr höchstes Gut, die Authentizität, aufs Spiel zu setzen und dabei Mahnungen in den Wind zu schlagen, lieber auf Zeit zu spielen und nichts zu überstürzen, war vermutlich keine ganz freie.
Es gibt Stimmen, die behaupten, einflussreiche hessische SPD-Freunde, die über Jahre ihren Aufstieg vorbereitet hatten, hätten gedroht: Ypsilanti werde fallen gelassen, sollte sie sich dem von ihnen favorisierten rot-grün-roten Projekt widersetzen und stattdessen einen ehrlichen Schlussstrich ziehen und auf Neuwahlen ohne vorherige Bündnisaussage bestehen; oder sich dafür entscheiden, Roland Koch ohne parlamentarische Mehrheit weiterregieren zu lassen und mit Gesetzesentwürfen, beispielsweise zur Abschaffung der Studiengebühren, in die Knie zwingen - das Procedere hierfür dauere zu lange. Andrea Ypsilanti versucht ein höhnisches Lachen: "Wenn Sie es richtig verfolgt haben, habe ich vor allem Ratschläge bekommen, was ich nicht machen soll. Das hat mich geärgert. Sie glauben doch nicht, dass solche Leute meine Berater sind. Ich stehe zu meiner Entscheidung."
Dann aber erfährt man doch zumindest ein bisschen, wer da alles Einfluss nehmen wollte auf sie: "Der Druck, auch von der Partei, war in den Sitzungen des Landesvorstands und der Fraktion vergangenen Dienstag unglaublich groß. Die Kollegen wollten zurück in ihre Unterbezirke, und sie wollten Ergebnisse verkünden können." Da habe sie die Entscheidung, "die ganz allmählich seit der Landtagswahl in mir herangereift ist", getroffen: Ja zur Linkspartei. Seither starrte die Republik auf sie. Von ihrem Erfolg oder Scheitern sollte plötzlich das Schicksal des SPD-Bundesvorsitzenden, der deutschen Sozialdemokratie, der großen Koalition in Berlin abhängen. "Und das Wetter wird auch schlechter", fügt sie böse hinzu. Sie sieht kläglich aus, aber sie will nicht darüber sprechen; Andrea Ypsilanti, die charmante SPD-Spitzenfrau, deren Zauber im Wahlkampf vor allem auf ihrer Gelassenheit gründete, wird patzig: "Ich kann Ihnen jetzt nicht meine tägliche Gefühlslage offenbaren. Ich gehe mit der Situation sachlich und verantwortungsvoll und konzentriert um."
Und dann, ganz am Ende des Gesprächs, macht sie ihrer Wut doch noch Luft: "Die ganze Debatte wäre ganz anders gelaufen, wenn ich ein Mann wäre. Ich bin mir sehr sicher, dass es hieße, wenn ein Mann das gemacht hätte, was ich jetzt mache, dann hat der einen Machtanspruch, dann setzt der sich durch. Ich hingegen bin besessen, egoistisch, blind", sie redet sich in Rage, "wir können ja nicht so tun, als hätte es die feministische Debatte nicht gegeben und als gäbe es nicht völlig unterschiedliche Bewertungskriterien für Männer und Frauen."
Es klingt wie ein verzweifelter Versuch, das Ruder doch noch herumzureißen. Der Appell zur Solidarität richtet sich vor allem an die SPD-Frauen, wenn die Männer es schon nicht sind. Er bleibt ungehört.
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