: Der Fake als Original
Der echte Berliner Street-Style ist Lichtjahre vom Fashion-Epizentrum in Mitte entfernt und kommt von Picaldi: Mit Kopien der legendär prolligen Diesel-Saddler-Karottenjeans hat der Kreuzberger Cemal C. ein sehr florierendes Modeimperium geschaffen
von CORNELIUS TITTEL
So genau will man es gar nicht wissen. Doch da die Frage schon mal im Raum steht, nimmt man die Antwort eben mit: Wieso ausgerechnet Berlin London nun endgültig den Rang als die trendsetzende Style-Metropole abgelaufen habe? Ulf Poschardt muss nicht lange nachdenken. Er sei letztens auf der Geburtstagsparty des Londoner Starfotografen Jürgen Teller gewesen – eine Party, die, wie es Starfotografen-Partys an sich haben, den Inner Circle der Londoner Fashion-, Kunst- und Musik-Hipsteria unter einem Dach versammelte. Lauter styletechnisch beschlagene Menschen also. Poschardt aber wird Zeuge folgender Pikanterie. Fetisch, Poschardt-Kumpel sowie DJ von Terranova, steht hinter den Plattenspielern und spielt „Emerge“, den Elektro-Hit der New Yorker Fisherspooner. Und was passiert? Stella McCartney will tatsächlich wissen, was denn das nun für ein toller Song sei. Ausgerechnet Stella McCartney! Ausgerechnet „Emerge“, ein Hit, der in Berliner Clubs schon derart abgenudelt ist, dass ihn auch nicht die Klofrauen mehr auf dem Heimweg pfeifen würden! Und wer macht den Nachhilfelehrer für unterinformierte Londoner Style-Ikonen? Ein Berliner! Den Nicht-Berlinern aber scheint die Sache sonnenklar. Terry Richardson, ein anderer Starfotograf, sieht momentan nirgendwo auf der Welt soviel kreatives Potenzial wie in Berlin-Mitte, Karl Lagerfeld hat hier den Spaß seines Lebens, und die Fashion-Magazine von New York bis Tokio schreiben mit Hingabe vor Fehlern strotzende „I love Berlin“-Cover-Storys voneinander ab. Dazu diese „Teller-Fetisch-Stella-Emerge“-Geschichte: So avanciert Mitte zum Epizentrum eines globalen Fashion-Bebens. Nun denn.
Cemal C. kann über derlei Geschichten nur müde lächeln. Der Kreuzberger ist mit Partner Zeki Ö. Herr über das stetig expandierende Berliner Label Picaldi, hat nie von Poschardt gehört, gibt einen Feuchten auf DJs, die sich Fetisch nennen, und fährt nur nach Mitte, wenn es unbedingt sein muss. Er käme nicht im Traum darauf, beim Stichwort „genuin Berliner Style“ an Stillettos, Chicks On Speed und frisch getönte Irokosenschnitte zu denken, die man rund ums Berliner „Appartment“ spazieren trägt. Sein Revier sind die Straßen Kreuzbergs, die Freibäder Neuköllns und die türkischen Jugendzentren des Wedding, seine Kundschaft liest im Zweifelsfalle eher die eigenen Vorstrafenregister als die Berlin-Specials von ID und The Face. Eine Kundschaft, die nur zu genau weiß, was sie will: den Codes der Straße entsprechen, den Original Berliner Street-Style sporten. Einen Style, den bis dato nicht eine Modezeitschrift zum Ding der Stunde erkärt hat.
„In erster Linie ist dieser Berlin-Style sehr hässlich“, klärt Cemal C. den Laien auf. „Diese Art Gangster-Style gibt es so wirklich nur hier. In Hannover sieht es schon ganz anders aus. Hier aber ziehen alle ihre Karottenjeans an und laufen dann rum wie kleine Gangster – Socken über die Hosen, Bomberjacken von Cordon-Sport, das volle Programm. Das sieht schrecklich aus. Aber warum sollte ich denen erklären, dass man sich die Hose nicht in die Socken stopft?“
Cemal C. sitzt entspannt in einem Kreuzberger Café – keine 50 Meter von einem seiner zwei „Flagship-Stores“ entfernt – und hat ein Dauergrinsen im Gesicht. Vier Jahre ist es her, dass der ehemalige Kfz-Experte Cemal C. und der Bäckermeister Zeki Ö. die Branche wechselten. Der Berliner Bedarf an Karottenjeans nach Vorbild der legendär prolligen „Diesel Saddler“ war nicht mehr zu übersehen, und so ließ man mit 50.000 Mark Startkapital und Kontakten zu einer türkischen Jeansmanufaktur die erste Fuhre Saddler-Kopien als Rip Off unter dem Namen „Picaldi Zicco“ nach Berlin schaffen. Ein denkwürdiger Tag, der zumindest das Straßenbild Kreuzbergs dauerhaft verändern hat.
„Es ist unglaublich“, erzählt Cemal C. „Wir haben mit fast nichts angefangen und operieren nun im Millionenbereich.“ Im Gegensatz zu vielen Boutiquebesitzern in Mitte verbucht Picaldi – ihr Slogan „Nix Aldi … Picaldi“ wirbt sogar in der U-Bahn für sie – Umsatzzuwächse im dreistelligen Bereich. Picaldis Kassenschlager: das Sweatshirt im klassischen Diesel-Design sowie Fake-Saddlers in mülltonnenblauem oder neongelbem Breitcord, alles zu einem zielgruppen-kompatiblen Drittel des Originalpreises. Eine Erfolgsgeschichte, die in der Deutschland-Zentrale der Jeans-Firma Diesel nur achselzuckend zur Kenntnis genommen wurde, bis man Ende letzten Jahres entnervt beschloss, die Original-Saddler komplett aus dem Programm zu nehmen. „Wenn wir die jetzt weiter produzieren, würden wir uns selbst verarschen“, so Diesels Pressechefin Danniele DeBie. „Wir sind ein High End Fashion-Label und können auf so eine Kundschaft verzichten.“
„Schon geil, schon geil …“, murmelt Cemal C. in seinen Latte Macchiato hinein, während eine nicht enden wollende Prozession von voll bepackten Picaldi-Players standesgemäß respect bezeugend seinen Tisch passiert – Kokosnussgel im Haar, Picaldi-Pullover in der brandneuen Hose, die Hose in den Socken, die Socken in klassischen Reeboc-Airobics, original mit Klettverschluss oben. „Irgendwann lernen die auch, dass das scheiße aussieht“, prognostiziert er und hat vorgebaut: Sein neues Unterlabel „Picaldi Red Tab“ soll mit streng an Levis angelehntem Design die seriösen, werktätigen Cousins und Onkels der Wannabe-Gangster überzeugen, und auch G-Star und Carhartt hat er längst im Visier. Die Zeichen stehen auf Expansion: Vier Berliner Picaldi-Shops soll es bis Ende des Jahres geben „… und dann werden wir andere Städte erobern. Mal schauen, was im Ruhrpott oder in Hamburg so geht. Wir sind da sehr flexibel.“
Nur eines will er nicht: die Kontrolle über sein Imperium aus der Hand geben. Trotz dringender Anfragen weigert er sich, die Picaldi-Range außer Haus zu verkaufen. Eine Imagefrage, denn nur in den eigenen Shops könne er für den 100-prozentigen Picaldi-Service bürgen. „Wir kennen unsere Kunden, machen Kaffee für sie, Geld zurück ist Standard. Und wer eine Hose kauft, kriegt ein paar Socken dazu, direkt zum Reinstecken, oder Baseball-Caps. So was bindet.“ Dass sich das Picaldi-Image inzwischen auch bei an Mode weniger interessierten Stellen rumgesprochen hat, macht ihn stolz. „Manchmal kommt die Kripo zu uns und bittet um Hilfe: Raubüberfall am Mehringdamm, das Opfer erinnert sich nur daran, dass die Täter Picaldi trugen. Da müssen wir dann aber leider passen“, sagt er, gibt einem vorbeikommenden Kunden beiläufig alle Fünfe und fragt rhetorisch: „Woher soll ich wissen, was der da in seiner Freizeit tut?“
Wieso, weshalb und ob überhaupt Berlin aber nun die Stadt der Städte sei, da haben Cemal C.s Kunden keinerlei Klärungsbedarf: „Guck sie dir nun an“, sagt er kopfschüttelnd: „Die denken, keiner kann ihnen was.“ Und so sitzt Cemal C. wie der junge Al Pacino in Kreuzberg und lächelt in die Zukunft. Mastermind eines modischen Paralleluniversums, in dem Streetcredibility und Lokalpatriotismus noch zu Schleuderpreisen über seine Theken gehen werden, wenn der Berliner Fashion-Hype längst Geschichte sein wird. „Schon geil, schon geil“, sagt er nochmal, begleicht die Rechnung und lässt den Blick schweifen. In seinen Straßen scheint nichts realer zu sein als seine Fakes. Fakes, die längst zu Originalen geworden sind. Und Mitte? Ist Lichtjahre entfernt.
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