Der Erste Weltkrieg im Comic-Format: Sieben Meter Krieg
Die „Schlacht an der Somme“ war eine verheerende Offensive der britischen Armee. Joe Sacco hat aus ihr ein überdimensionales Wimmelbild gemacht.
Am Tag vor dem großen Angriff machte General Douglas Haig einen raschen Spaziergang um das kleine Château, das ihm als persönliches Hauptquartier diente. Haig war im Ersten Weltkrieg britischer Oberbefehlshaber an der Westfront, und sein Spaziergang steht am Beginn eines der bemerkenswertesten Druckerzeugnisse, die das große Weltkriegsgedenkjahr 2014 hervorgebracht hat: eines 7 Meter langen, aber nur 22 Zentimeter hohen Wimmelbilds, gezeichnet von dem maltesisch-amerikanischen Comic-Künstler Joe Sacco.
Es zeigt den Auftakt der Schlacht an der Somme am 1. Juli 1916. Sie sollte der „Big Push“ werden, von dem sich die Alliierten einen Durchbruch im zähen nordfranzösischen Stellungskrieg erhofften. Doch sie wurde zu einem militärischen Desaster.
Saccos Kriegspanorama ist mehr als nur eine Momentaufnahme. In ihm vergeht die Zeit, es ist ein Comic, nur ohne Begrenzungslinien, ohne Einzelpanels, ohne Text. Von links nach rechts führt es den Betrachter vom Feldlager über die Schützengräben, das Schlachtfeld und wieder zurück. Parallel vergehen die Stunden, und wie Sacco diese räumlich-zeitliche Verschränkung hinbekommt, wie er mit seinem feinen, sachlichen Strich aus den vielen Einzelereignissen ein organisches Ganzes formt, ist einfach atemberaubend.
Herausgegeben wird das Bild als ziehharmonikaartig gefaltetes Leporello, das von zwei stabilen Buchdeckeln gehalten wird. So kann man „Die Schlacht an der Somme – Der erste Tag“ bequem wie einen Bildband durchblättern, Doppelseite für Doppelseite, kann den Ausschnitt aber auch erweitern. Komplett ausklappen wird man das Leporello hingegen wohl nie, dafür ist das Format schlicht zu unhandlich – und betrachtet man das Geschehen in seiner gesamten Breite, erkennt man ohnehin nichts mehr.
Joe Sacco: „Der Erste Weltkrieg: Die Schlacht an der Somme“. Edition Moderne, Zürich 2014; 35 Euro
Und was man alles erkennen kann. Zu Beginn laufen die Vorbereitungen auf den Angriffsschlag, Soldaten striegeln ihre Pferde, sie laden Säcke aus Planwagen ab, bauen die Haubitzen auf, stehen an der Feldküche an. Die Stimmung ist konzentriert, fast gelöst – man war sich ja sicher, dass der Big Push funktionieren würde: Eine Woche durchgehendes Artilleriefeuer mit anderthalb Millionen Granaten sollte die deutschen Schützengräben ausräuchern, dann würden britischen Soldaten die Stellungen erobern. Es ist ein Masterplan, 120.000 Mann sind an der Front versammelt, und 113.000 Kilometer Telefonleitungen wurden verlegt.
Als das Sperrfeuer beginnt, verwandelt sich der Horizont in Saccos Bild in eine Wand aus Rauch und Staub, und schließlich wird es dunkel. Die letzte Nacht vor dem Angriff hat begonnen. Nun blicken wir in Schützengräben voller Soldaten, sie haben Marschgepäck und Schaufeln dabei, es ist so voll, dass die meisten stehend warten müssen.
Und viele warten auf ihren Tod. Denn das Artilleriefeuer war weitestgehend wirkungslos, viele der eingesetzten Granaten waren vom falschen Typ. Die Deutschen waren nicht nur am Leben, sie waren auch noch alarmiert, und ihre Maschinengewehrsalven mähten die britischen Soldaten im freien Feld nieder. 8.000 von ihnen starben allein in der ersten Stunde der Schlacht, knapp 20.000 am ersten Tag.
Auf den letzten der sieben Meter kehren die Verletzten in die Reste des Lagers zurück, wo schon die ersten Gräber ausgehoben werden. Die Schlacht an der Somme ging Monate weiter und endete am 18. November 1916 ohne wirkliche Entscheidung. Insgesamt wurden mehr als eine Million Soldaten verwundet, getötet oder als vermisst gemeldet.
All diese Informationen enthält ein Essay des Historikers Adam Hochschild im Beiheft zur „Schlacht an der Somme“, das man – selbst wenn man so etwas sonst nie tut – lesen sollte. Auch Sacco selbst erläutert bestimmte Details des Bildes; dazu schreibt er in einem Vorwort über dessen Entstehung. Als Vorbild und Einflussgeber nennt er dort den Teppich von Bayeux aus dem 11. Jahrhundert, der die normannische Invasion Englands abbildet. Mit klassischen Kriegsgemälden hat „Die Schlacht an der Somme“ hingegen wenig zu tun – schon weil das Werk nicht als Propagandamittel eines Feldherren geschaffen wurde.
Deutliche Ähnlichkeiten gibt es aber mit den im 19. Jahrhundert beliebten Kriegspanoramen: meterhohen Gemälden mit zahlreichen Aufmerksamkeitszonen, ausgestellt in teils eigens gebauten kreisrunden Gebäuden, die dem Betrachter den Eindruck vermittelten, mitten im Geschehen zu sein. Eines davon, von dem Russen Franz Roubaud, steht noch heute auf der Krim und zeigt die „Belagerung von Sewastopol“ im Krimkrieg 1854/55.
Der Krimkrieg war der erste Krieg, in dem Journalisten dank des technischen Fortschritts Nachrichten über die Ereignisse so schnell – im Abstand von nur wenigen Tagen nämlich! – an der Heimatfront verbreiten konnten, dass es zu Rückkopplungseffekten im Kriegsgeschehen kommen konnte. Und da Fotoapparate noch zu unhandlich waren, kam oft das Mittel eines zeichnerischen Journalismus zum Einsatz, Illustrationen vom Kriege, deren Authentizität der Hinweis „Taken on the spot“ belegen sollte.
Auch Joe Sacco bezeichnet sich als zeichnender Journalist. Der 53-Jährige ist in zahlreiche Krisengebiete gereist, hat aus Bosnien, Palästina, Irak oder Inguschetien Reportagen mitgebracht und sich in seinem Buch „Gaza“, das die Tötung zahlreicher Palästinenser während der Suez-Krise 1956 rekonstruiert, bereits an Geschichtsaufarbeitung geübt.
In all diesen Büchern ist Sacco dicht dran an den Menschen, lässt Protagonisten zur Sprache kommen, zeigt Einzelschicksale. „Die Schlacht an der Somme“ bleibt hingegen distanziert. Bei einem schnellen Blick ist alles ohnehin nur ein großes Gewusel, unzählige Männer mit Helmen und Uniformen, Explosionen, Flugzeuge am Himmel. Erst wenn man sich Zeit für die Bilder nimmt, sieht man die zerfetzten Körper der Toten, sieht man, wie Männer unter Verzweiflungsschreien auf Tragen weggebracht werden. Selbst dann fällt die Empathie mit ihnen schwer. Zu klein, zu gesichtslos, ja einfach zu fern sind sie.
Einen persönlicheren, intensiveren Comicblick auf den Ersten Weltkrieg bieten die von Sacco selbst im Vorwort empfohlenen Bücher Jacques Tardis, „Elender Krieg“ und „Grabenkrieg“, die den Horror, die Verrohung und die Sinnlosigkeit des Schützengrabenkriegs aus dem Blickwinkel französischer Soldaten schildert. Joe Saccos Leporello ist einzigartig in Form und Inhalt. Doch fühlt es sich immer auch wie eine künstlerische Fingerübung an, die vor allem durch ihre Konsequenz beeindruckt.
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