Depressiver Fußballprofi Vieri: Langer Abschied eines Geradlinigen
Christian Vieri, der einst mutig Depressionen eingestand, hat seine Karriere als Profifußballer beendet. Oder nicht. Oder doch? Das weiß wohl nicht einmal Vieri selbst.
Christian Vieri ist ein Mann der Widersprüche. Vor gut zehn Tagen wäre der einstige Auswahlstürmer Italiens noch in die Schmuddelecke des wankelmütigen Stars gesteckt worden, der jedes Maß verloren habe und weder seine Karriere ordentlich beenden noch von der Droge der medialen Aufmerksamkeit lassen könne. Im Oktober dieses Jahres hatte der Altstar seinen endgültigen Rücktritt verkündet. "Ich habe keine Freude mehr am Fußball. Dieses Kapitel ist für mich abgeschlossen. Nicht einmal mehr das Ausland kann mich locken", sagte er.
Selbst vom Poker, neben Golf und Playstation eine der drei wichtigsten Ausgleichssportarten von Fußballprofis, wolle er jetzt lassen. Zuletzt war Vieri mit seinem unglücklichen dritten Engagement bei Atalanta Bergamo in den Schlagzeilen gewesen. Die Fans hatten die gesamte Stadt mit Aufklebern zugepflastert, auf den Vieri als "undankbar" und "unwürdig" beschimpft und sein Konterfei in ein Verbotsschild gesetzt wurde. Einige ganz hart Gesottene hatten sogar die Bewohner einer Villa bedroht, die sie irrtümlicherweise für den Wohnort Vieris hielten.
Den derart übersteigerten Unmut der Anhänger hatte sich Vieri zugezogen, weil er zwei Jahre zuvor eine langwierige Verletzung in Bergamo auskuriert hatte, nach erfolgreicher Genesung jedoch zur Fiorentina gewechselt war, im ersten Duell gegen seinen alten Verein ein Tor erzielte und das dann auch noch bejubelte. So krank kann Fußball sein, dass aus dieser Verkettung von Ereignissen eine regelrechte Hasskampagne erwächst. Kein Wunder, dass Vieri vom Fußball die Nase voll hatte.
Kaum drei Wochen nach der Ankündigung des Karriereendes tauchte Vieri indes in Brasilien auf. Der Zweitdivisionär Botafogo di Ribeirao Preto hat ihn verpflichtet. Doch der Klub löst den Vertrag, als Vieri nicht zur vereinbarten medizinischen Untersuchung erscheint. Lieber vergnügt sich Vieri mit seiner Lebensgefährtin, dem Model Melissa Satta, an der Copacabana. Dort schließt er laut brasilianischen Medien auch einen Vertrag mit Boavista Rio de Janeiro über 50.000 Dollar monatlich, einen Chauffeur und eine Wohnung am Strand ab. Boavista tritt nur in der dritten Spielklasse an, trägt seine Heimspiele aber in der inoffiziellen brasilianischen Surfhauptstadt Saquarema - eine gute Stunde nördlich von Rio de Janeiro - aus. Als sich diese Lebensperspektive vor Vieris Augen abzeichnet, erklärt er: "Nur der Fußball kann mir helfen."
Vor gut zehn Tagen wäre Vieri mit dieser Hü-Hott-Strategie als Exstar ohne Entschlusskraft und wortbrüchiger Egoist bezeichnet worden. Nach Robert Enkes Suizid fällt ein anderes Licht auf ihn. Christian Vieri hat seine eigene Art gefunden, mit der Bestie Öffentlichkeit, die sich von seinem Leben nährt, dieses Leben andererseits aber auch stimuliert, auszukommen. Die vermeintliche Salami-Taktik stellt Vieris Versuch dar, auch unter den Bedingungen der kompletten medialen Ausleuchtung Akteur seiner selbst zu bleiben. Vieri ist in dieser Hinsicht Pionier.
Bereits 2006 hatte er zugegeben, unter Depressionen zu leiden. Er war sogar mit einem ärztlichen Attest, das die Erkrankung bestätigte, an die Öffentlichkeit getreten. Anlass war ein Gerichtsprozess. Inter Mailand hatte in perfider Kooperation mit dem Geschäftspartner Telecom Italia dessen Sicherheitsexperten veranlasst, die eigenen Spieler und Mitarbeiter zu bespitzeln. Im Herbst 2006 flog die Abhöraktion auf. Während die meisten Betroffenen diesen Vertrauensmissbrauch zumindest nach außen ungerührt wegsteckten und weiter ihrer gut dotierten Arbeit im schwarz-blauen Imperium nachgingen, scherte Vieri aus der Phalanx der Duckmäuser aus und verklagte die Telecom auf 12 und Inter auf neun Millionen Euro Schadensersatz.
Der kantige Mittelstürmer beweist damit, dass er sich nicht nur in die Spielfeldzonen zu werfen versteht, in denen es wehtut, sondern die Konflikte mit den Gewaltigen der Branche nicht scheut. Einst war Vieri wegen seiner Geradlinigkeit und seiner Trefferquote bewundert worden. In den besten Zeiten überstieg die Zahl seiner Treffer die Zahl seiner Einsätze. Als er sein 100. Tor für Inter erzielte, setzten ihm seine Mannschaftskameraden eine selbst gebastelte goldene Krone auf. Mittlerweile gibt es statt Kronen meist nur Häme. Dabei verdient Vieri gerade jetzt für seine Qualitäten in der Kategorie Selbstbehauptung Respekt. Ein Trost ist, dass er sich mit einer Halbsaison im brasilianischen Sommer wenigstens selbst ein wenig zu belohnen weiß.
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