Denkschleifen in Zeiten der Isolation: Nullen und Einsen, Emojis und Likes
Jeden Morgen das gleiche Dilemma: Offene Tabs und Schlagzeilen lenken vom Denken ab. Wo ist nochmal der Aus-Knopf? Ein Essay aus der neuen Normalität.
I ch schreibe, um herauszufinden, was ich denke. Daher muss ich morgens aufpassen, was ich denke, bevor ich schreibe. In Zeiten von social Distancing ist das fast unmöglich: Da die Öffentlichkeit, an der ich mein Schaffen stets ausgerichtet habe, zusammengeschrumpft ist, verfange ich mich jeden Morgen im gleichen Dilemma. Anstatt mir mithilfe von Alltagsbeobachtungen, Konzerten oder Gesprächen die Welt vom Leib zu halten, um klar denken zu können, lasse ich sie ungefiltert auf mich einprasseln – und all die offenen Tabs, Bücher und Zeitungen, von denen ich mir Erkenntnisse über das große Ganze erhoffe, machen alles nur komplizierter.
Sie geben mir das Gefühl, alles wurde schon gedacht, gesagt und geschrieben, egal, wie sehr ich mich anstrenge, aus dem Wirklichkeitsteig den nächsten hot take für einen Text oder das nächste Konzept für ein Musikprojekt zu kneten. Doch war das, was ich denke, nicht immer schon das, was andere denken? Liegt die Macht politisch forcierter „Normalität“ nicht darin, eine Gesellschaft aus Einzel-Ichs in ein Durchschnitts-Ich zu verwandeln, um sie regierbar zu machen?
Als Kind wurde mir ständig eingebläut, ich solle ich selbst sein. Ich hatte Angst davor, weil ich nie wusste, wie das geht. Zumal mir Menschen mit großem Selbstbewusstsein bis heute unangenehm sind. Inzwischen glaube ich, ich selbst zu sein heißt eher, ein Ich aus den existierenden Ich-Schablonen zusammenzubasteln – und dass es gesund ist, sich selbst ein bisschen fremd zu sein, um nicht der Illusion anheim zu fallen, man sei ein völlig autonomes Wesen und nicht stets von anderen und anderem abhängig.
So steckte ich noch vor meinem Morgenkaffee in dieser autofiktionalen Denkschleife fest und wartete darauf, dass meine Gedanken an einer interessanten Stelle einrasten. Ach ja, heute wollte ich ja zur Buchhandlung – eine rare Chance, ein bisschen mehr Welt als nur die Auswahl von Schokoriegeln im Supermarkt zu spüren. Oder das, was von ihr in kondensierter Form der totalen Gegenwart übrig ist. Eine Gegenwart, deren Drehbuch niemand kennt, aber alle fühlen.
Allen geht es „ganz okay“
Fast alle Freund*innen, mit denen ich chatte oder telefoniere, sagen mir, ihnen gehe es „ganz okay“. Ich glaube, sie sagen nie die ganze Wahrheit, und ich frage mich, woher diese Schicksalsergebenheit kommt, warum das Private derart privatisiert ist und wie es sich wieder politisch machen ließe. Vielleicht, indem wir uns klarmachen, dass der Schmerz nicht individuell, sondern systemisch produziert ist – und sich innerhalb eines sorgsam abgesteckten Möglichkeitsraumes entfaltet, der aus Nullen und Einsen, Emojis und Likes besteht, die mich schon morgens vom Denken ablenken. Gut, dass ich noch weiß, wo der Aus-Knopf ist – und der Ausgang aus meiner Wohnung.
Draußen scheint mir die Neuköllner Sonne ins Gesicht wie Suchscheinwerfer dem/der Dieb*in auf dem nächtlichen Hinterhof. „Eine zweifelhafte Metapher“, schreibt Ann Cotten, „verlagert Poesie und Geschmack in den Leser hinein.“ Mit storchartigen Schritten schreite ich los in Richtung Buchladen und den Menschen, die zu nahe kommen, aus dem Weg.
Aldi Süd hat letztes Jahr mehr Umsatz gemacht als die gesamte deutsche Verlagsbranche. Kein Wunder, Tomaten und Schokoriegel sind systemrelevanter als Buchstaben.
Ich rufe meinen Vater an. Er sagt, bei ihm zu Hause sei alles „ganz normal“. Ich lache und bin beruhigt. Gut, dass er nicht auf Twitter ist, wo alle so sehr „sie selbst“, also keinesfalls durchschnittlich sind, dass eine solche Unterstellung einer konsensualen Realität, auf deren Basis regelmäßig unser Müll weggebracht und die Erde für rund erklärt wird, diskursive Beben auslöst. Na ja, zumindest weiß ich jetzt, was ich denke.
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