Demonstrationen und Diskriminierung: Die Wut der Unterdrückten
Menschen, die immer höflich bleiben, werden nicht gehört, sagt unsere Autorin. Protestierende brauchen den Zorn, um soziale Ungleichheit anzuprangern.
Protestierende sind für gewöhnlich wütend. Sie erfahren oder beobachten etwas, das sie erzürnen lässt und sie an die Öffentlichkeit lockt, um dort lautstark die Umstände zu kritisieren. Wut, argumentierte die Schriftstellerin und Aktivistin Audre Lorde bei einer Konferenz 1981, führe zu Fortschritt und Wandel. Nicht gemeint ist damit die unerträgliche Empörung derer, die sich einer banalen Atemmaske verweigern. Es geht vielmehr um die Wut aufgrund von Unrecht und Unterdrückung, von realer sozialer Ungleichheit in all ihren Formen und Folgen.
Wut steht hier exemplarisch für ein Set an Emotionen, die dabei zum Ausdruck kommen. Allerdings wird den Emotionen der Leidenden seit jeher eher ungern Aufmerksamkeit geschenkt: Ihre Wut wird übergangen, umgedeutet oder bestraft. Wut als Teil des Kampfs für mehr Gerechtigkeit zu begreifen, wie auch Lorde forderte, ist deshalb so wichtig, weil erstens die Kontrolle der Wut ein Aspekt der Unterdrückung ist, gegen die sie sich wendet. Zweitens lassen sich mit einer empathischen Anerkennung der Wut auch die verschiedenen Kämpfe gegen Unrecht verbinden.
Das kann die Wut der Protestierenden von Black Lives Matter sein, denen so lange schon nicht zugehört wird. Die Wut nach den Anschlägen von Halle, Hanau und durch den NSU und über das Vergessenwerden. Die Wut fehlender Anerkennung, die Wut aufgrund struktureller Gewalt. Es kann eine Wut sein, die sich schleichend Bahn bricht. Oder eine, mit der sich in Sekundenbruchteil der Puls beschleunigt, wenn jemand aus einem Autofenster anzügliche Sprüche säuselt, während man an der Ampel steht.
Emotionen können, vergleichbar mit Sprache und anderen körperlichen Techniken, als Praktiken gedeutet werden. Sie sind historisch gewachsene Kommunikationsformen, die sich je nach Zeit und Raum anders äußern und anders anerkannt werden. Wenn man wütend ist, die Atmung flach wird und das Herz rast, dann sind das verkörperte Effekte, die mitunter erlernt wurden – und die an Konventionen, soziale Erwartungen und spezifische Situationen gebunden sind.
Was ist Tone Policing?
Wie Sprache bilden auch Emotionen umkämpfte Felder, in denen Macht ausgehandelt wird. Der Begriff des Tone Policing, also der Kontrolle des Tons, mit dem etwas geäußert wird, beschreibt, wie beispielsweise die Stimme, der Tonfall, die Mimik und Gestik bis hin zur Sprache gemaßregelt werden. „Kannst du das mal netter sagen?“, ist so ein Satz um die Emotionen des Gegenübers, die sich beispielsweise in einer lauten Stimme, einem verzerrten Gesicht äußern, zu dominieren. Er impliziert: „Ich habe dich zwar gehört, aber die Art und Weise, wie du es sagst, passt mir nicht – und deshalb setze ich mich auch nicht damit auseinander.“
Tone Policing, beziehungsweise Emotionskontrolle, tritt dort auf, wo Menschen sich weigern, den Emotionen des Gegenübers Raum zu geben. Es kann als Versuch verstanden werden, emotionale Äußerungen zu ignorieren, zu negieren und andere Verhaltensformen zu erzwingen.
Wissen ist Macht
Was ist Rassismus? Warum schreibt man oft „trans“ klein, aber „Schwarz“ groß? Was meinen die Gender Studies genau, wenn sie sagen, „Geschlecht ist konstruiert“? Es ist unabdingbar, Grundlagen der kritischen Gesellschaftswissenschaften zu kennen, wenn man über antirassistische und queerfeministische Politiken diskutiert.
Von vorn erklärt
In dieser Reihe erschien bislang jede Woche auf dieser Seite ein erklärender Text zu einem oder mehreren Begriffen aus dem Bereich Feminismus und Antirassismus. Die Reihe wird von nun an in loser Folge fortgesetzt.
Alle Folgen unter taz.de/grundlagen
Wer nett und höflich bleibt und die gesellschaftliche Etikette wahrt, so die Folgerung, der werde auch erhört. Die Reaktionen auf die Black-Lives-Matter-Demonstrationen zeigen: Friedlicher, stiller Protest werde unterstützt, laute, wütende, sich Raum nehmende Menschen jedoch nicht. Ihre Formen der Emotionalität werden vereinfacht als „Krawalle“ oder „Randale“ gedeutet und abgelehnt.
In einem anderen Fall von Tone Policing sind wütende Frauen adressiert, prominent gesetzt in der Figur der aggressiven Feministin oder der angry black woman. Ein Beispiel für die Kontrolle weiblicher Körper wäre die lange praktizierte gewaltvolle Behandlung der Hysterie als spezifisch weibliche Erkrankung. Ein anderes spiegelt sich in der Annahme, Auseinandersetzungen könnten ausschließlich nach bestimmten Regeln, nämlich rational und vernunftgeleitet, geführt werden. Dies missachtet die historische Konstruiertheit dieser Eigenschaften, und, was noch wichtiger ist, schreibt die Fähigkeit zur Vernunft den Männern zu – während Frauen in der Gegenüberstellung als emotional, irrational, affektiv etc. markiert sind.
Machtstabilisierend oder machtherausfordernd?
Ihre Positionen werden, wenn sie sich nicht den legitimierten Kommunikationsformen anpassen, übergangen, gemaßregelt, unterdrückt oder bestraft. Wütende Suffragetten beispielsweise, die für das Frauenwahlrecht und für mehr Beteiligung kämpften, wurden eingesperrt, während die friedlichen anderen weiterhin Unterschriften sammeln durften. Die Kontrolle über Emotionen üben auch die Marginalisierten selbst aus, am eigenen Körper und an der eigenen Gruppe.
Tone Policing ist ein relativ neuer Begriff und benennt, vermeintlich harmlos, den Ton als die Weise, wie Unrecht verlautet wird. Er beinhaltet aber ein ganzes Spektrum an Strategien, um die je nach Kontext unterdrückten Körper (ihre Sprache, ihre Emotionen und so weiter) zu überwachen. Dass diese Strategien so oft auf die Wut zielen, liegt daran, dass sie unkontrollierbar scheint. Wer mal Zeug:in eines handfesten Wutausbruchs war, hat das vermutlich schon erlebt. Der Unterschied ist, wer wütend wird.
Denn während aggressives Verhalten der einen machtstabilisierend wirkt, zielt eine Wut, die Unrecht benennt, gegen machtvolle Strukturen. Diese Wut wirkt bedrohlich, erfordert Regulierung.
Der Begriff hat noch eine weitere Komponente, nämlich die des Gegenübers, das einen gemäßigten, an Höflichkeitsregeln gebundenen Umgang mit bestimmten Themen einfordert. Audre Lorde richtete sich bei jener Konferenz an weiße, akademische Frauen, an deren Maßregelung von Wut aufgrund rassistischer, sexistischer und homophober Zustände: Die Angst vor der Wut einer Schwarzen, lesbischen Frau scheine, so Lordes Folgerung, bedrohlicher zu sein als die Zustände selbst. Und die Angst vor der eigenen Verfehlung zudem bedrohlicher als die tödlichen Folgen dieser Zustände.
Schuldvolles Schweigen
Die Forderung, etwas netter, rationaler oder einfach anders auszudrücken, stellt die Emotionen der Kontrollierenden in den Vordergrund. Die Begriffe white Fragility und male/white Tears bezeichnen sinnbildhaft den Versuch, die Aufmerksamkeit auf die eigene Emotionalität zu ziehen – als sei die Konfrontation mit bloßer Kritik von Ungerechtigkeit schmerzvoller als das Erleben derselben. Die Weigerung denen Gehör zu schenken, die ihre Erfahrungen freundlicherweise teilen, zeigt sich in schuldvollem Schweigen oder in der herausgestellten eigenen Betroffenheit.
Es ist ein Lernprozess, die Wut der anderen auszuhalten und dabei auch noch die eigene (Re-)Produktion machtvoller Verhältnisse zu reflektieren. Eine empathischer Umgang mit Emotionen könnte ein Anfang sein. Um Rassismus zu verlernen, wie unlängst die Kulturwissenschaftlerin Fatma Sagir in der Wochenzeitung Kontext formulierte, sei notwendig, zu „fühlen, was der Schmerz des anderen ist“.
Die Wut aus jahrzehntelangen Kämpfen anzuerkennen, die oftmals still und friedlich verliefen und trotzdem nicht die geforderten Veränderungen herbeiführten, ist ein Aspekt von Empathie. Wut zudem als verbindendes Element vieler Kämpfe zu betrachten, könnte helfen, Empathie solidarisch werden zu lassen – und damit endlich denen zuzuhören, die an Unrecht leiden, ihr Leiden zu kennen und Wandel zuzulassen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht
Verkauf von E-Autos
Die Antriebswende braucht mehr Schwung
Die HTS in Syrien
Vom Islamismus zur führenden Rebellengruppe
Warnstreiks bei VW
Der Vorstand ist schuld