Demokratiekrise in Tunesien: Präsident löst Parlament auf
Seit acht Monaten war das tunesische Parlament suspendiert. Nachdem sich die Abgeordneten trotzdem trafen, löst Präsident Kais Saied es nun auf.
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An der virtuellen Sitzung hatten 120 der insgesamt 217 Abgeordneten teilgenommen. In dem von ihnen angenommenen Gesetzesentwurf werfen sie dem Staatschef vor, demokratische Prozesse zu blockieren und ein autokratisches System einführen zu wollen. Die Abgeordneten forderten außerdem Parlaments- und Präsidentschaftswahlen und einen nationalen Dialog, um den politischen Stillstand zu überwinden.
Saied war Ende 2019 gewählt worden. Im vergangenen Juli berief er sich auf einen Notstandsartikel der Verfassung, setzte die Regierung ab, suspendierte das Parlament und hob die Immunität der Abgeordneten auf. Er regiert seitdem per Dekret. Der Staatschef hat einen Fahrplan für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung aufgestellt. Demnach soll im Juli ein Referendum über die Verfassung abgehalten werden, gefolgt von Wahlen am Ende des Jahres.
Die Opposition wirft Saied vor, er betreibe einen Putsch gegen die demokratische Revolution, durch die 2011 während des Arabischen Frühlings der Langzeit-Machthaber Zine El Abidine Ben Ali gestürzt worden war. Saieds Schritte waren zunächst von vielen Tunesiern begrüßt worden, die das oft festgefahrene politische System leid waren.
Das Büro der Volksvertreter, dem das Parlamentspräsidium und Vertreter der Fraktionen angehören, hatte bereits am Montag eine virtuelle Sitzung abgehalten. Dabei wurde die Parlamentssitzung am Mittwoch anberaumt, bei der über die „Sondervollmachten“ beraten werden sollte, die Saïed für sich beansprucht.
Der Staatschef hatte die Sitzung umgehend als „illegal“ bezeichnet. Die von dem Gremium angekündigten Parlamentssitzungen hätten „keinen Wert“ und seien ein „versuchter Staatsstreich“, sagte er bereits damals.
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