Demokratie und Bürgerbeteiligung: Die Welt mitverändern
Immer weniger Bürger engagieren sich für das Gemeinwohl. Für die Demokratie ist das ebenso Gift wie das Übermaß an oft fälschlichen Informationen.
E s gibt Geschichten, die begleiten einen wie ein Mantra. Eine davon habe ich vor langer Zeit an dieser Stelle schon einmal erzählt, aber gelegentlich ploppt sie wieder ins Gedächtnis: die Geschichte von dem Mann, der so unangenehm spöttisch lachte, als ich ins Stottern kam. Warum ich Journalist geworden sei, hatte er mich gefragt, und ich darauf irgend etwas von „Weltverändern durch Aufklären“ gemurmelt. Ich traf den Soziologen Hans Speier 1977 in einem Vorort von New York, einen Schüler Karl Mannheims.
Der wiederum hatte das Wort vom „freischwebenden Intellektuellen“ geprägt, dem überparteilichen Statthalter der Vernunft im Interessenkampf. Speier hatte an der Hochschule für Politik in Berlin gelehrt und musste 1933 nach New York fliehen, wurde Kriegstheoretiker und Experte für Propaganda im Dienste der US-Regierung.
„Weltverändern?“, rief er damals aus, „da haben Sie den falschen Beruf gewählt. Völlig falsch. Wenn Sie die Welt verändern wollen, dann müssen Sie in eine politische Partei gehen und um Mehrheiten kämpfen.“ Sein Ton war unerträglich belehrend; ich fühlte seine Verachtung für den naiven, machtvergessenen Studenten. Und dann passierte mir, was mir nie zuvor passiert war, und nie wieder danach. Ich habe Hans Speier drei Stunden lang interviewt, und als ich zurück im Hotel in New York die Bänder durchhörte, war nichts davon mehr da. Vier leere Rollen Tonband.
Das fiel mir dieser Tage wieder einmal ein, angesichts von zwei Publikationen, die sich mit der Krise der parlamentarischen Demokratie beschäftigen. Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler hat ein schlankes Büchlein geschrieben („Die Zukunft der Demokratie“) über zwei Mindestvoraussetzungen der Demokratie. Zum einen eine Plattform von gesicherten, von allen geteilten Informationen, auf deren Grundlage politische Öffentlichkeit überhaupt erst möglich wird.
Gespaltene Öffentlichkeit
Und zweitens: eine verbreitete Bereitschaft zur Mitwirkung in den Institutionen des Gemeinwesens. Beides, so Münkler, sei so nicht mehr gegeben. Als ich 1977 in Hartsdale mein Interview ruinierte, stand es um beides noch besser – auch deshalb ärgerte mich, was ich für den Zynismus eines Regierungssoziologen hielt. Man konnte damals mit ein wenig mehr Recht als heute davon ausgehen, dass Aufklärung die Verhältnisse in Bewegung bringen kann.
Die SPD leistete bis 1986 noch Widerstand gegen die Kommerzialisierung von Funk und Fernsehen. Es gab noch keinen Privatfunk, kommerzielles TV sowieso nicht. Information und Bildung fanden auf wenigen Kanälen statt. Hohes und Flaches, Anspruchsvolles und Entspannendes, rechts und links waren besser gemischt – man konnte sicher sein, dass die Kollegen am nächsten Morgen ungefähr denselben Kenntnisstand hatten wie man selber. Und außerdem gab es lokale Zeitungsvielfalt.
Auch die zweite Voraussetzung, die Münkler nennt, war noch gegeben: die Bereitschaft zur Mitwirkung in den Parteien. In den turbulenten 60er und 70er Jahren hatte sich die Mitgliederzahl in allen Parteien verdoppelt, junge Aktive hatten an Einfluss gewonnen, Intellektuelle engagierten sich im politischen Alltag und nicht nur auf den Marktplätzen der Meinung. Heute leben wir in einer anderen Welt.
Die Öffentlichkeit spaltet sich immer weiter in Infoblasen und zahlungspflichtige Informationsportale für „Entscheider“. In den schrumpfenden Parteien gibt es gerade einmal 200.000 „ämterorientierte Aktive“; aus diesem kleinen Kreis rekrutieren sich die Eliten der Parlamente, der Verwaltungen, der Sozialverbände. Das Misstrauen der Bürger gegen eine schmale Schicht von Berufspolitikern wächst kontinuierlich. Demonstrationen haben begrenzte Wirkung auf Gesetzgebung; auf die aber kommt es letztlich an.
Bürgerbeteiligung unerwünscht
Das alles ist keine neue Erkenntnis, die Ursachen sind benannt: die ehernen Mechanismen der Parteienoligarchien; die Individualisierung und der Konsumismus; die gezielte Zerstörung des dualen Systems von privater Presse und öffentlich-rechtlichen Medien. Postdemokratie. Die Arbeit der Zuspitzung – nach Peter Glotz, einem der letzten Intellektuellen in der Politik: „die Klärung der Gegensätze und die Mobilisierung von verborgenen und verschütten Wünschen und Bedürfnissen“ – ist aus den Parteien und einer kuratierten Presse in die knalligen Talkshows, die Meinungsblasen outgesourct.
Jammern macht müde. Wo ist Abhilfe? Auch Münkler bietet nur Palliativmedizin an: geldwerte Kompensationen für Engagement in den politischen Institutionen statt außerhalb von ihnen und gegen sie; und, was die Meinungsbildung angeht, eine Art von mehrfach zu erneuerndem „Führerschein“ für das gefahrlose Navigieren in einer Welt von Stimmungsspiralen und Fake-News-Fallen. Ich glaube nicht, dass solche Mittelchen aus der Notapotheke eine republikanische Renaissance auslösen können.
Und gegen wirksame Bürgerbeteiligung, die zwar regelmäßig in den Programmen steht und die gerade wieder die ehemalige Verfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolff fordert (ihr Buch heißt „Demophobie“), schotten sich die Parteien sorgsam ab: Wenn etwa der hannoversche Bürgermeister die Forderung der Letzten Generation aufnimmt, kriegt er sofort die Rute der „gewählten Volksvertreter“ zu spüren.
Nein, die Staatsmacht lässt sich nicht von außen lenken, der Souverän muss schon reingehen und mitspielen, wenn er wirklich etwas will. In die Langeweile der Ortsvereine, in die Machtspiele der versäulten Parteien. Das war die bittere Pille, die mir der machtnahe Soziologe Hans Speier vor einem halben Jahrhundert verpasst hat, und die mir so sauer aufgestoßen war, dass ich viermal den Drehschalter des Aufnahmegeräts auf PLAY statt auf RECORD gedreht hatte.
Das war keine Schusseligkeit, sondern eine Fehlleistung. Die ist verbreitet, und sie verbreitet sich vorläufig weiter. Der letzte Sieg der Freiheit, schrieb der Verwaltungsangestellte Gottfried Keller, wird nüchtern sein.
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