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Demokratie früher und heuteDie Wahl der Qual

Wahlen gehören zur Demokratie. Aber die aktuellen Wahlmöglichkeiten treiben einen zum Weinen in den Keller. Ein fiktives Gespräch beim Glühwein.

So viel zu früher: „Tagesschau“-Sprecher Karl-Heinz Köpke im Jahr 1971 Foto: Dieter Klar/dpa

W arum soll ich für alles Verständnis aufbringen?“, fragt die Frau auf dem Weihnachtsmarkt und pustet in ihren Glühwein.

„Für was meinste jetzt?“, fragt ihre Freundin.

„Na, für alle Meinungen oder Verirrungen, ich will nicht jeden Murks verstehen, ich will scheiße finden, was ich scheiße finde und damit selig werden, basta.“

„Aber wenn alle nur in ihrer eigenen Seligkeit eiern, dann passiert, was passiert!“, ruft ein Mann vom nebenan.

„Und was?“, fragt eine andere Frau.

„Na, dass alles hintenrum ausklabüstert wird und dann gemacht wird, was wieder keiner versteht“, sagt ein Typ.

„Scholz ad hoc im Nachtzug in die Ukraine, meinen Sie?“

„Scholz am Hörer an der langen Leitung zu Putin.“

„Scholz, der sagt, Merz sei quasi die Atombombe in Person.“

„Bomba non grata.“

„Und Merkel offenbart derweil medial im Plauderton, politisch funktioniere eben nur der Kompromiss, Fehler inklusive.“

„Was muss, das muss.“

„Die Politiker, die im Februar was reißen könnten, sind Kompromiss oder populistische rechte Bombe.“

„Und Politikerinnen.“

„Nee, für Weidel gender ich nicht.“

„Aber für Heidi Reichinnek von der Linken kann man das schon machen.“

„Safe. Aber Weidel soll sich gehackt legen.“

„Die würd’ auch sagen, ich bin gar keine Frau, ich wurde nur zufällig vor 45 Jahren mit zwei X-Chromosomen geboren.“

„Wär’ das nicht transpositiv?“

„Allein, dass die AfD antreten darf, wär’ ein Grund, die Wahl zu boykottieren.“

„Man kann nicht für die Demokratie kämpfen, ohne zu wählen.“

„Und zum Weinen in den Keller danach.“

„Oder lange heiß duschen.“

„Früher war alles besser.“

„Mehr Glitzer.“

„Bitte nicht die Lametta-Keule!“

„Echt, keinen althergebrachten Kapitulations-Senf, die Damen und Herren, das ist nostalgische Tatsachenverdrehung, es war noch nie alles besser!“

„Die SPD schon!“

„Das Fernsehen auch!

„Mein Highlight: Diese Flimmer-Punkte nach Sendeschluss, einfach Top, Kontemplation in Schwarz-Weiß.“

„Gab nur drei Programme, was war daran besser?“

„Kaum Wahlmöglichkeiten.“

„Den Kindern konnte man sagen, sorry, gibt nur eine halbe Stunde Kinderprogramm.“

„Man konnte alles auf die Programm­macher schieben.“

„Ohne gendern, waren nur Männer.“

„Früher war nix besser.“

„Übersichtlicher scheiße.“

„Übersichtlich konservativ, dazu ein paar zu Recht wütende Linke.“

„Die Linke steht ja nun auch zur Wahl.“

„Aber wären das nicht verschenkte Stimmen?“

„Wenn alle so denken, dann schon.“

„Und wenn so einige denken, ich wähl’ vorsichtshalber SPD, damit die AfD nicht zweitstärkste Kraft wird, dann wird Olaf es nochmal werden.“

„Vorsicht ist die Mutter der Kanzlerkiste.“

„Ein Kanzler aus Sorge.“

„Vorsorgekanzler.“

„Warum hatte die SPD beim letzten Mal noch gewonnen?“

„Laschet?“

„Kühnert?“

„Die Dropse sind jetzt aber gelutscht.“

„Totgeglaubte leben länger?“

„Das sollte nicht das Lebensmotto einer ­Partei sein.“

„Stabilität?“

„In was?“

„Selige Selbstüberschätzung.“

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Jasmin Ramadan
Jasmin Ramadan ist Schriftstellerin in Hamburg. Ihr neuer Roman Roman „Auf Wiedersehen“ ist im April 2023 im Weissbooks Verlag erschienen. 2020 war sie für den Bachmann-Preis nominiert. In der taz verdichtet sie im Zwei-Wochen-Takt tatsächlich Erlebtes literarisch.
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1 Kommentar

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  • Nicht schön, aber wahr :((