Deichbau als Strategiespiel: Ostfriesland auf dem Brett

Uwe Rosenberg hat mit „Arler Erde“ ein komplexes Strategiespiel über Ostfriesland erfunden. Der Auricher arbeitete damit seine Familiengeschichte auf.

Uwe Rosenberg sitzt vor dem von ihm entwickelten Brettspiel "Arler Erde".

Spielt‘n Ostfriese Heimat: Uwe Rosenberg Foto: Andrea Scharpen

HAMBURG taz | Von vorne peitscht die Nordsee gegen die Deiche. Hinten liegt das Moor, sumpfig und nass. Dazwischen Arle, ein ostfriesisches Dorf, um 1800. Es gibt hier nur ein paar Bauernhöfe, Schafe und schwarz-weiß gefleckte Milchkühe. Der Spieleautor Uwe Rosenberg hat mit „Arler Erde“ ein komplexes Strategiespiel über die Urbarmachung Ostfrieslands erfunden – und damit weltweit Erfolg.

Dabei sollte man meinen, dass das Thema schon in Bayern niemanden mehr interessiert. Doch von den insgesamt 10.000 verkauften Exemplaren gingen zum Beispiel 750 nach Japan. „Für die Menschen da ist das nur irgendeine Region in Europa“, sagt Uwe Rosenberg, ein Typ mit ausgewaschenem Shirt und strubbeligem Haar.

Für Rosenberg dagegen ist es Zuhause. Der 45-Jährige ist in Ostfriesland aufgewachsen. Genau wie Generationen seiner Familie vor ihm. Das Bauernhaus seines Ururgroßvaters steht noch immer. Das Dach ist verwittert und die dunkelgrüne Farbe von der Holztür abgeplatzt, aber es steht.

Mit dem Spiel arbeitet Rosenberg die Geschichte seiner Familie auf. Sein Vater ging als Kind noch selbst zum Torfstechen ins Moor. Der Torf wurde getrocknet und zum Heizen benutzt. In „Arler Erde“ brauchen auch die Spieler bald mehr Land, müssen Moore trocken legen, Torf stechen und Deiche bauen. Das bringt am Ende Punkte, aber vor allem schafft es Platz in der eigenen Landschaft, um Äcker anzulegen und Ställe zu bauen.

Uwe Rosenberg hat schon weit über 20 Spiele erfunden und veröffentlicht. Dazu kommen viele Erweiterungen.

Zu seinen bekanntesten Spielen gehören das Kartenspiel Bohnanza, bei dem die Mitspieler Bohnen anbauen müssen, um an Taler zu kommen und das komplexe Strategiespiel Agricola.

Thematisch orientieren sich die Spiele meist an der Landwirtschaft und dem klassischen Handwerk. Der Spieleerfinder versucht in seinem Spiel Geld als Währung zu vermeiden. Meistens werden Waren getauscht.

Exportiert werden seine Spiele in die ganze Welt. Große Märkte für Brettspiele gibt es in Amerika, Taiwan und Südkorea - auch wenn das Thema des Spiels die Norddeutsche Provinz ist.

Mit dem International Gamers Award ausgezeichnet wurden Rosenbergs Spiele Agricola und das Hafenspiel Le Havre.

Ausflug mit dem Vater

Rosenberg stellt das Leben seiner Vorfahren sehr realistisch dar: Das Spiel ist in Sommer und Winter geteilt. Die Spieler können ernten, mit ihren Waren handeln und Ausflüge mit dem Wagen nach Dornum, Bremen oder Aurich machen. Der Autor hat für das Spiel viele der Orte mit seinem Vater bereist. Über die Geschichte, die Bräuche und Eigenarten der Ostfriesen hat er sogar ein Begleitheft zum Spiel geschrieben. „Wir sind uns dadurch nähergekommen“, sagt er. Auf der Tour hatten sie Zeit zum Reden, über die Kindheit des Vaters, den Bauernhof und die Gegend. „So wurde klar, wie das Spiel aussehen muss“, sagt Rosenberg.

Er selbst hatte vom Leben auf dem Land eigentlich wenig Ahnung. Rosenberg wuchs in Aurich auf und ging fürs Statistik-Studium nach Dortmund. Heute wohnt er mit seiner Frau und seinen drei kleinen Kindern in Gütersloh. In seinem Arbeitszimmer steht ein schmaler, dunkelbrauner Schreibtisch aus Holz. Rosenberg hat ihn extra von einem Tischler anfertigen lassen. Unter der Platte kann er zwei weitere Ebenen herausziehen, damit er drei Brettspiele gleichzeitig aufbauen kann. Manchmal arbeitet er an mehreren Projekten parallel.

Die Regale an den Wänden sind gefüllt mit Spielen, Ersatzteilkartons und unzähligen Sachbüchern über das Mittelalter, Ostfriesland und die Landwirtschaft. In seinen Spielen soll jedes Detail stimmen. „Mir ist wichtig, dass man die Geschichte spürt“, sagt er.

Am Anfang seiner Spiele steht jedoch meist nicht das Thema, sondern ein Mechanismus. Rosenberg tüftelt so lange hin und her, bis ihn ein Spielzug überzeugt. Er spielt gegen sich selbst – jeden Tag. So entstehe das Spiel nach und nach. „Wie bei einem Schriftsteller, dessen Geschichte sich beim Schreiben entwickelt“, sagt er. Stößt er dabei auf mechanische Probleme, weil ein Schritt nicht zum nächsten führt, fängt Rosenberg an zu grübeln, unter der Dusche oder auf der Schlafcouch im Arbeitszimmer. „Lang ausstrecken hilft oft“, sagt er. Dann sehe er das Problem aus einer anderen Perspektive.

Das Bettzeug auf der Couch ist noch zerwühlt, ein Schlafanzug liegt daneben. Gerade hat er einen stressigen Auftrag hinter sich. Er hat eine neue Version seines Spiels „Agricola“ für den amerikanischen Markt entwickelt. Zum Schluss lief die Zeit davon, der Vertrag sah nach Ablauf der Frist empfindliche Strafen vor. Rosenberg verbrachte die Nächte in seinem Arbeitszimmer. „Da bin ich etwas naiv rangegangen“, sagt er. „Wir sind eben alles Amateure in der Branche.“ Gemeinsam mit dem Team seines Verlags hat er es gerade rechtzeitig geschafft.

Der Spieleerfinder ist an mehreren Verlagen beteiligt. Das Kaufmännische überlässt er anderen, genau wie die Gestaltung der Spiele. Für die kauzigen Zeichnungen friesischer Bauern, von Torfkähnen oder des gelb-roten Leuchtturms von Pilsum auf den Spielsteinen ist Grafiker Dennis Lohausen verantwortlich. Die Prototypen auf Rosenbergs Schreibtisch sind nicht mehr als ein bedrucktes Blatt Papier und ein paar Figuren. „Das muss nicht schön sein“, sagt er. „Nur funktionieren.“

Sein erstes Spiel hat er schon als Kind entwickelt. Das Thema war Fußball. Das Prinzip: Laufen und Schießen. Strategisch anspruchsvoll war das nicht, aber das Spieleerfinden ließ ihn nicht mehr los. Während seiner Zeit bei der Bundeswehr in Aurich veröffentlichte er sein erstes Spiel bei einem Verlag: „Times“, ein Quiz mit historischen Fragen. Der Erfolg war mäßig, trotzdem hatte Rosenberg seine Leidenschaft gefunden. „Ich wusste, dass es das ist, was ich machen will.“

Anstoß auf dem Parkplatz

Der entscheidende Anstoß war ein Gespräch auf einem Parkplatz. „Dabei kann sich mein Gesprächspartner schon gar nicht mehr daran erinnern“, sagt Rosenberg und lacht. Ein Freund erzählte ihm, dass ein amerikanischer Verlag auf der Suche nach neuen Kartenspielen sei. „Es war der richtige Zeitpunkt, um ihnen eines anzubieten.“ Rosenberg gelang schon beim zweiten Versuch ein Coup: Er entwickelte das Kartenspiel „Bohnanza“. Das einfache Spielprinzip verkauft sich noch heute. Etliche Erweiterungen sind auf dem Markt.

Plötzlich hatte Rosenberg, der mittellose Statistik-Student, echten Erfolg mit einem Spiel und verdiente mit seiner Idee Geld. „Am Anfang hatte ich noch gute Ideen“, sagt Rosenberg, „dann kam auch viel Blödsinn.“ Seine Karriere kam ins Stocken. „Am Anfang habe ich Spiele gemacht, die mir selbst gefallen.“ Später habe er versucht, neue Mechanismen zu entwickeln. Dabei war, wenn er sich fragte, warum vor ihm noch nie jemand diese Idee ausprobiert hatte, die Antwort schnell klar: „Weil sie keinen Spaß macht.“

Für seine Spiele fand er keine Verleger. Trotzdem tüftelte er weiter, probierte seine Ideen mit Spielegruppen aus, bis auch die keine Lust mehr hatten. Er tingelte von Spieleabend zu Spieleabend, verzichtete dort auf Chips und Bier, um zu sparen, lebte in einem kleinen Zimmer. Das Geld war knapp. „Aber das war mir nicht wichtig.“ Wichtig waren nur die Spiele.

„Ich bin kläglich gescheitert“, sagt Rosenberg. Mit dem Studienabschluss in der Tasche ging er deshalb zu seinem ersten Vorstellungsgespräch. Die Aussicht: ein Bürojob als Statistiker. „Mir ist danach speiübel geworden.“ Er gab sich selbst drei Jahre, um endlich Erfolg als Spieleerfinder zu haben – und schaffte es nicht. Keiner der Verlage wollte seine Spiele.

Erst als er begann, Party- und Quizspiele – einige davon über Geschlechterklischees – zu erfinden, kehrte der Erfolg zurück. Rosenberg entwickelte auch die Brettspielversion der Trash-TV-Sendung „Bauer sucht Frau“, bereut das aber heute. „Verdient habe ich dabei so gut wie nichts, dafür aber meinem Ruf geschadet“, sagt er. „Ich hätte mir die Sendung vorher mal anschauen sollen.“

Zu schwer für Touristen

Heute entwickelt er vor allem komplexe Strategiespiele, sogenannte Worker-Placement-Spiele. Dabei werden Spielsteine eingesetzt, um Aktionen auszulösen, bei „Arler Erde“ etwa, um den eigenen Hof zu erweitern. „Arler Erde“ ist ein ziemlicher Brocken. Man spielt daran zwei bis drei Stunden, obwohl das Spiel nur für ein bis zwei Spieler ist. Schon die Anleitung ist nichts für unerfahrene Spieler: Auf 19 eng bedruckten Seiten werden die 30 möglichen Spielzüge erklärt, aus denen man auswählen kann. Rosenberg riet deshalb Touristenbüros und Cafés in Ostfriesland davon ab, „Arler Erde“ anzubieten. „Das ist das Schlimmste, was man Touristen antun kann“, sagt Rosenberg. „Ein regnerischer Urlaub in Ostfriesland und dann noch so ein Spiel.“ Niemand solle einen solchen Strategie-Klopper aus Versehen kaufen.

Rosenberg kann das sagen. Seine Spiele verkaufen sich trotzdem. „Ich habe meine Fans“, sagt er – Menschen auf der ganzen Welt, die seine Spiele gerade wegen der komplexen Mechanismen kaufen. „Die asiatischen Fans sind die enthusiastischsten“, sagt er. Auf Spielemessen, bei denen Verlage ihre neusten Projekte vorstellen, behandelten sie ihn ehrerbietig wie einen Popstar. „Solange, bis sie merken, dass ich ganz normal mit ihnen rede.“

Für Touristen und Brettspielfans in Ostfriesland plant Rosenberg schon das nächste Spiel – weniger komplex, damit man es an Regentagen mit der Familie spielen kann. Es soll auf den ostfriesischen Inseln spielen. Die sollen die Spieler erschließen, bis der Tourismus boomt. „Sie müssen aus dem Nichts etwas machen, am Anfang Strandgut sammeln“, sagt Rosenberg.

Ostfriesland lässt ihn nicht los. Früher stellte er sich, wenn er nach Hause kam, erst einmal auf einen Deich, schloss die Augen und atmete tief durch. Heute ist sein Zuhause dort, wo seine Familie ist, sagt er. Rosenberg ist angekommen, in Gütersloh. Nur zum Spielen aus Spaß hat er als Familienpapa überhaupt keine Zeit mehr.

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