Debütroman von Jayrôme C. Robinet: Bis die ersten Steine fliegen
Mehr als nur ein Leihvater: Welchem Hass ein schwangerer trans Mann begegnet, davon erzählt Jayrôme C. Robinet in seinem Roman „Sonne in Scherben“.
Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann“ – dieses Zitat hat Jayrôme C. Robinet seinem ersten Roman „Sonne in Scherben“ als Motto vorangestellt. Es handelt sich dabei um den Untertitel von Heinrich Bölls „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“, in dem eine junge Frau durch die Hetze einer Boulevardzeitung in die Verzweiflung getrieben wird, bis sie schließlich einen Mord begeht.
Ähnlich schonungslos von der Presse verfolgt werden Angèle und Enzo, die Protagonist*innen in Robinets Roman. Die beiden leben in einer französischen Kleinstadt, sind glücklich verheiratet und wünschen sich ein Kind.
Weil Angèle unfruchtbar ist, entscheiden sie sich dafür, dass Enzo schwanger werden soll – denn er ist ein trans Mann, der seinen Uterus noch hat. Eine Gynäkologin zu finden, die das Paar behandelt, gestaltet sich als schwierig, sodass sie die Befruchtung selbst organisieren müssen.
Jayrôme C. Robinet: „Sonne in Scherben“. Hanser Berlin Verlag, Berlin 2024, 256 Seiten, 24 Euro
Einen Auszug aus dem Roman las Robinet 2023 beim Bachmann-Preis. Davor erschien 2019 bei Hanser Berlin der Essay „Mein Weg von einer weißen Frau zu einem jungen Mann mit Migrationshintergrund“ und 2015 bei w_orten & meer die Textsammlung „Das Licht ist weder gerecht noch ungerecht“.
Hetze in der Boulevardpresse
Für Enzo und Angèle scheint endlich alles gut zu laufen, bis sich die Nachricht über Enzos Schwangerschaft in der Presse verbreitet. Absurde Schlagzeilen wie „Kommt sein Baby mit einem Vollbart zur Welt?“ tauchen fast täglich in der fiktiven Klatschzeitschrift Revue auf. Gegen die Zeitung zu klagen ist laut einem Anwalt aussichtslos, weil die Schwangerschaft eines Mannes vermutlich als Sache von öffentlichem Interesse gewertet würde. Stattdessen rät der Anwalt ihnen, ihre eigene Version der Geschichte zu verbreiten.
Also berichtet Enzo in einem Artikel über seine Schwangerschaft, die nicht dazu führe, dass er seine Männlichkeit in Frage stellt: Er sehe sich technisch gesehen als „Leihvater“. Trotz der positiven Gegendarstellung nimmt der Druck durch die Medien und die Öffentlichkeit immer bedrohlichere Formen an, wie zum Beispiel die eines Pflastersteins mit der Aufschrift „Monster“, mit dem das Fenster ihres Wohnhauses eingeschlagen wird.
Die Hetze wirkt sich zunehmend auf die Beziehung der beiden aus und treibt insbesondere Angèle an den Rande des Wahnsinns – und zu einer verheerenden Tat, als das Baby kurz nach der Geburt stirbt.
Das Buch ist inspiriert von der Geschichte des Amerikaners Thomas Beatie, der 2008 als erster schwangerer Mann weltweit Schlagzeilen machte. Nachdem Robinet damals von diesem Fall hörte, sei ihm die Idee für den Roman gekommen, wie er beim queeren Literaturfestival „Coming Out, Inviting In“ im Literarischen Colloquium Berlin berichtete.
Er wollte ihn aber erst veröffentlichen, sobald es genug positive queere Geschichten als Gegengewicht gäbe. Das ist inzwischen der Fall: Zum Beispiel erzählt Torrey Peters im Roman „Detransition, Baby“ von einer queeren Dreiecks-Elternschaft.
Widersprüchliche Charaktere
Robinet stellt die queere Community in seinem Roman nicht als heile Welt dar. Vielmehr sind die Charaktere widersprüchlich und verhalten sich nicht immer moralisch einwandfrei: Enzos Freundin Jessie zum Beispiel, eine trans Frau, die das Paar nach einer Samenspende gefragt hatte, was sie ablehnte, verrät intime Details über die Insemination in einem Youtube-Video.
Der Roman ist aus wechselnden Perspektiven geschrieben, meist aus Enzos oder Angèles, aber auch Enzos Mutter oder außenstehende Personen kommen zu Wort. So erinnert das Buch zuweilen an die Gerichtsvernehmung zu einem Fall – noch bevor ein Gericht tatsächlich zum Schauplatz wird.
Neben den Tragödien gibt es immer wieder auch unterhaltsame Situationen, wie etwa Angèles ersten Besuch einer queeren Party, auf der sie die Frage „Bist du Femme?“ als Frage nach ihrem „Fame“ missversteht.
Enzos Transidentität an sich steht nicht im Mittelpunkt der Erzählung, sondern wird als selbstverständlich gezeigt. Die Beschreibung seines Coming-outs beschränkt sich auf zwei Sätze: „Enzo hatte schon immer gern Verantwortung übernommen. Im Alter von dreiundzwanzig Jahren hatte er beschlossen, mit sich selbst ins Reine zu kommen und eine Transition zu beginnen.“
Progressiver als die Realität
Auch wenn das Buch keinen Bildungsauftrag verfolgt, erfährt man beim Lesen einiges über die Absurditäten des Rechtssystems, wenn es um den Zugang zu künstlicher Befruchtung für trans Personen geht. Vieles ist Geschichte, auch wenn die Gesetzgebung im Roman etwas progressiver als in der Realität dargestellt wird: So werden trans Personen in Frankreich seit 2016 nicht mehr zur Sterilisation gezwungen, wenn sie ihren Geschlechtseintrag ändern wollen.
Im Roman wird diese Gesetzesänderung allerdings auf 2002 verschoben, damit Enzo in der Zeit, zu der der Roman spielt, rechtlich als Mann anerkannt wird und trotzdem ein Kind austragen kann. In Deutschland wurden der Zwang zur Sterilisation und geschlechtsangleichenden OP für die Änderung des Geschlechtseintrags 2011 abgeschafft.
Der Roman endet mit einem moralischen Dilemma und überlässt es den Leser*innen, es für sich zu lösen. Mit viel Empathie für seine Figuren und ohne die Leser*innen zu bevormunden, erzählt Robinet eine berührende Familiengeschichte, einen rasanten Kriminalroman und ein Psychogramm einer Familie, die dem gesellschaftlichen Druck kaum standhält. Dank der humorvollen Sprache bleibt die Geschichte trotz der emotionalen Zumutungen unterhaltsam.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Getöteter General in Moskau
Der Menschheit ein Wohlgefallen?
Sturz des Assad-Regimes
Freut euch über Syrien!
Weihnachten und Einsamkeit
Die neue Volkskrankheit
Grünes Wahlprogramm 2025
Wirtschaft vor Klima
Bombenattentat in Moskau
Anschlag mit Sprengkraft
Krieg in Nahost
Israels Dilemma nach Assads Sturz