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Debütroman von Inga MachelFamilie mit schwerem Gepäck

Ein Ich-Erzähler umkreist den Suizid des eigenen Vaters – und die Autorin verleiht dem Intensität: Inga Machels Debütroman „Auf den Gleisen“.

Die S-Bahn bringt Bewegung in das Trauma: Sonnenuntergang über der Warschauer Brücke in Berlin Foto: Emmanuele Contini/imago

Auf die Idee, das Trauma eines väterlichen Suizids durch das Stalken eines Junkies, nein, nicht zu therapieren, aber doch wenigstens handhabbar werden zu lassen, muss man auch erst einmal kommen. Das ist die strukturierende Grundidee in Inga Machels Debütroman „Auf den Gleisen“, der einen nach dem Lesen noch lange nachgehen und beschäftigen kann.

„Ich weiß, dass sich der Tod meines Vaters damals wie ein fremdes Organ in mir anfühlte“, heißt es zu Beginn. Dann lernt Mario, der Ich-Erzähler, einen Drogenabhängigen kennen, der nur P. genannt wird, folgt ihm auf seinen Wegen durch Berlin, denkt dabei an seine Familiengeschichte zurück, und am Schluss – Jahre vergehen zwischendurch – ist zwar noch immer keine Heilung da, aber immerhin setzt sich etwas Lichtes in den Beschreibungen durch, eine Ahnung davon, dass das Leben weitergehen kann.

Zu den vielen interessanten Aspekten dieses Romans gehört, dass die Verknüpfung zwischen dem Vater des Ich-Erzählers und diesem P. die ganze Zeit über vage bleibt. Direkt haben diese beiden Schicksalen rein gar nichts miteinander zu tun, und auch die Art und Weise, wie sich im Junkie-Alltag die Verlorenheit und Überforderung des Vaters spiegelt, bleibt verschwommen. Was aber durch die Begegnungen mit P. überhaupt erst in die Geschichte hinein­kommt, ist Bewegung, und das macht dann die Familiengeschichte erst erzählbar.

Ohne einmal mit ihm zu reden, folgt Mario P. durch die Straßen, hin zu den Treffpunkten der Obdachlosen und der Drogendeals, sie begegnen sich auch immer wieder zufällig, Mario steigt auch in die heruntergekommene Wohnung von P. ein. Ganz nebenbei entsteht so ein Berlin-Roman, in dem die sonst üblichen zentralen Schauplätze – Kreuzberg, Warschauer Straße, Mitte – zwar vorkommen, aber viel mehr noch immer umfahren werden.

Der Roman

Inga Machel: „Auf den Gleisen“. Rowohlt, Hamburg 2024. 160 ­Seiten, 22 Euro

P. und in seinem Gefolge auch Mario fahren auf der S-Bahnstrecke der Ringbahn um das Berliner Lebens- und Partyzentrum herum. An den großen S-Bahnhöfen gibt es Einkaufszentren, in denen P. abhängt und Mario in einiger Entfernung mit ihm. Ein unschickes, arm und auch nicht sexy seiendes Berlin der Supermarkt-Parkplätze, der hastig gekauften und schnell getrunkenen Billigbiere und des sich in die anonymen Menge Verlierens entsteht so. Gibt es noch das Klischee, dass die junge deutsche Literatur sich vor allem mit den Ich-Problemen von Mittelklassekindern beschäftigen würde? Okay, hier wäre ein Gegenentwurf.

Aufblitzende Szenen und Splitter

Genauso wie der Erzähler im Gefolge von P. die Mitte Berlins umkreist, umkreist er in immer wieder neuen Anläufen seine Familiengeschichte. In wie aufblitzenden Szenen und Splittern setzt sich allmählich das Drama dieser in einem kleinen Ort lebenden Familie zusammen. Anders als in vielen Romanen sonst ist hier die Mutter vor allem mit ihrem Beruf beschäftigt und emotional abwesend, und der Vater ist die allerdings überforderte emotionale Bezugsperson für Mario und seinen älteren Bruder Ron.

„Spätabends setzte sich mein Vater manchmal zu uns Kinder ans Bett und weinte. Seine Sorgen waren nie besonders rätselhaft, es ging um Mutter, die Familie, einen Streit, die Arbeit oder Geld.“ Manchmal nimmt der Vater dann die Kinder noch mit in die Küche und wärmt ihnen die Nudeln vom Mittag auf. „Die Abende, an denen mein Vater weinte, waren deshalb oft schöner als andere.“

Die Autorin Inga Machel wurde 1986 geboren, mit diesem Roman wurde sie für den Leipziger Buchpreis nominiert. Wenn man nur einmal nachvollzieht, wie oft in diesem Roman geweint wird – der Vater weint, der Erzähler weint, P. weint, nur die Mutter weint nicht –, kann man sich gut vorstellen, wie schnell „Auf den Gleisen“ auch hätte im reinen Elendsklischee steckenbleiben können. Doch das tut er eben nicht. Inga Machel beweist hier ein großes Gespür dafür, wie sie einen in diesen aufblitzenden und in sich überaus sorgfältig gebauten Szenen immer wieder mitnehmen kann.

Lange Reise durch die Nacht

Dass sich dieser Ich-Erzähler durch die Genauigkeit seiner Beobachtungen von dem schweren Gepäck seines Familienhintergrunds und, damit zusammenhängend, seiner eigenen Alkoholikerkarriere befreit, wird nie direkt angesprochen, aber ist ein Hintergrund, der mitschwingt. Sich abschießen mit Alkohol – bei sich sein im Beobachten: Das ist ein den Text strukturierender Gegensatz.

Dass Inga Machel dieser Lebensbewegung des Sichverlierens und Sichfindens Schönheit verleihen würde, wäre zu viel gesagt; sie verklärt das Elend an keiner Stelle. Aber sie verleiht den Bewegungen in Berlin und im Text Intensität. Wenn man durch ist mit dem Buch, fühlt man sich wie nach einer langen Reise durch eine Nacht.

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