Debütalbum von Naima Bock: Epiphanie mit Wohnmobil
Die britische Musikerin Naima Bock findet auf ihrem Debütalbum „Giant Palm“ beim Driften zu sich selbst. Das geht seltsam zu Herzen.
Wenn der Gedanke an die eigene Endlichkeit zu schwer auf den Schultern lastet, gibt es nur eine Möglichkeit: Erstmal ein Wohnmobil suchen. Abhauen, am besten alleine. So hat zumindest Naima Bock sich das vorgestellt. „In wind and rain I’ll find my birth/And when I can I’ll go alone“, singt die Londoner Musikerin in „Campervan“. Was sich nach einer recht generischen Selbstfindungsfantasie anhört, klingt auf Bocks Solo-Debütalbum „Giant Palm“, als öffne sie das Tor zu einem Raum außerhalb der Zeit. Eine Gitarrenmelodie wie gleißendes Licht verwandelt sich in einen gedämpften Walzer – draußen im Wald, wo sich Fuchs und Hase, Vashti Bunyan und John Cale „Gute Nacht“ sagen. „Looking for a camper van“, singt Bock im Refrain sehnsüchtig, „looking for a different band“.
Diese Band, die Naima Bock verlassen hat, heißt Goat Girl, und sie gilt als eine der derzeit wichtigsten Gitarrenbands Englands. Bereits als Teenager sollen sich die Mitglieder von Goat Girl kennengelernt haben. Wie auch andere aktuell prägende britische Bands, zum Beispiel Black Midi und Shame, formten sie ihren Sound anschließend bei Auftritten im Club „The Windmill“ im Südlondoner Stadtteil Brixton: einem dieser Orte, an dem noch junge Rock’n’Roll-Geschichte geschrieben wird.
Naima Bock: „Giant Palm“ (Sub Pop/Cargo)
20. 9. Leipzig, „UT Connewitz“; 21. 9. Hamburg, „RBF“; 22. 9. Berlin, „Prachtwerk“; 23. 9. Köln, „Theater der Wohngemeinschaft“; 24. 9. München, „Heppel & Ettlich“
Es ist schwer zu sagen, ob Goat Girl mit ihrem selbstbetitelten Debüt 2018 zur rechten Zeit am rechten Ort waren. Oder ob sie es gewesen sind, die diese „rechte Zeit“ mit eingeläutet haben: die Wiederkehr der Gitarrenmusik als mächtiges Gefährt, das diffuses Unbehagen an der Welt genauso gut transportiert, wie die Wut übers Leben im dysfunktionalen Post-Brexit-England. Wobei Goat Girl nie dezidiert agitatorisch klangen – und nie dezidiert nach England. Vielmehr hörte sich ihr rätselhafter Sound zwischen Direktheit und Surrealismus an wie eine versponnene Version der Cowpunk-Vorreiter The Gun Club aus Los Angeles. Ihr Debüt war ein schwergängiges Wanken und Trudeln, ein Album der Americana-Biester, der schrägen Zwischenspiele und verbeulten Honky-Tonks mit Postpunk-Schlagseite.
Sonnenmüde Blechbläser
Naima Bock: „Giant Palm“ (Sub Pop/Cargo)
20. 9. Leipzig, „UT Connewitz“; 21. 9. Hamburg, „RBF“; 22. 9. Berlin, „Prachtwerk“; 23. 9. Köln, „Theater der Wohngemeinschaft“; 24. 9. München, „Heppel & Ettlich“
Die Welt liebte diese sperrige Band, die so offensichtlich nicht nach Liebe fragte. Als aber das zweite Album von Goat Girl, „On All Fours“, Anfang 2021 erschien, war Bock als Bassistin schon nicht mehr mit von der Partie. Warum die Trennung offenbar nötig wurde, hört man in ihrem Debüt: Auf „Giant Palm“ rumpelt und scheppert nichts. Lieber als kaputten Rock spielt Bock psychedelischen Folk wie aus dem Laurel Canyon der 1970er. Das Echo dieser Musik hallte einst bis in die Nullerjahre hinein in die Einsiedlerhütten von Musikern wie Devendra Banhart, die man bald der „New Weird America“-Bewegung zuordnen sollte.
Naima Bock erweitert den „Freak Folk“ jener Zeit um Streicher, Flöten und sanfte, sonnenmüde Blechbläser. Geradewegs aus Brasilien scheinen sie übers Meer zu wehen. Bocks Mutter stammt von dort, die Musikerin selbst verbrachte einen Teil ihrer Kindheit in São Paulo. Zeit genug, den Geist des Tropicalismo zu inhalieren: die Musik von Os Mutantes oder Gal Costa, die Psychedelic und Bossa Nova verbindet. Scheinbar ewig lässt Bock ihre kalifornisch-brasilianischen Traumlieder ausfransen und schlingern. Manchmal fragt man sich für Sekunden, ob die Musik überhaupt noch läuft oder längst im Kopf weiterspielt.
Bocks dunkle, sanfte Stimme erinnert an eine andere Hoffnungsträgerin aus London: Nilüfer Yanya, die vor Kurzem ihr zweites Album veröffentlicht hat. Im Song „Every Morning“ wiederum klingt Bock fast wie Aldous Harding. Genau wie die neuseeländische Gestaltwandlerin trifft Bock oft sehr genau den „sweet spot“ zwischen Rührendem, Skurrilem und sachte Beunruhigendem.
Im Video zum Stück „Toll“ etwa zieht ein leidgeplagter Pilger, gekleidet in Schwarz, einsam durch die Welt. Auf einer Lichtung findet er einen weißen Hut und erfährt eine Art Epiphanie: Heureka, das Leben ist ja doch annehmbar! Als Sektenführer zieht er bald eine Gruppe Hippies in Wallekleidern, unter ihnen Naima Bock selbst, in seinen Bann. Das Ganze ist zugleich Gruselmärchen in Wackelkamera-Ästhetik und ironisches Spiel mit den Folkreferenzen in Bocks Musik. Und geht doch seltsam zu Herzen, ähnlich wie ihre Suche nach dem Wohnmobil im Video zum Song „Campervan“. Als sie es schließlich gefunden hat, fährt sie nämlich doch nicht all alone in die Wildnis. Sondern gemeinsam mit der Band, dem passenden Kollektiv, das sie gesucht – und nun endlich gefunden hat.
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