Debatten über den Krieg in der Ukraine: „Wir sind alle Juden!“
Zwei Drittel der Dresdner Juden und Jüdinnen stammen aus der Ukraine, ein Drittel aus Russland. Warum der Krieg die Gemeinschaft dennoch nicht entzweit.
S o oft der Weg am Neubau der Dresdner Synagoge vorbeiführt, sieht man einen blau-weißen Polizeiwagen zwischen Brühlscher Terrasse und der Carola-Elbbrücke stehen. „Früher standen unsere Türen offen, jetzt dürfen sie es nicht mehr“, klagt nüchtern der aus den USA stammende Gemeindevorsitzende Michael Hurshell, Dirigent und Dozent an der Musikhochschule. Übergriffe hat es hier in den vergangenen Jahren zwar nicht gegeben, aber nach dem Fanal des Attentatsversuchs in Halle 2019 ist man auch in Dresden gewarnt.
Nie darf sich wiederholen, was am selben Ort in der Pogromnacht 1938 geschah: Die Synagoge des berühmten Baumeisters Gottfried Semper, die damals größte in Deutschland, wurde ein Opfer der Flammen. Wenige Tage nach der Pogromnacht ließen die Nazis die Trümmer abreißen.
Der Neubau mit seinen beiden gegenüberstehenden sandsteinfarbenen Betonkuben lädt an und für sich wie kaum eine anderes Gotteshaus zur Begegnung ein. Zwischen der eigentlichen Synagoge und dem Gemeindehaus erstreckt sich ein kiesbedeckter, versammlungsfreundlicher Innenhof.
In die Verwaltungsetagen oberhalb des großen Gemeindesaals hat in diesen Tagen der Vorstand zu einem Gespräch eingeladen. „Bitte nicht den Krieg auch noch in die Gemeinde tragen!“, schärft zuvor Elena Tsirkina ein. „Das ist das Letzte, was wir brauchen können!“ Die Frau in mittleren Jahren kam vor 25 Jahren aus Sankt Petersburg nach Dresden, ist mit einem Wissenschaftler verheiratet und kümmert sich um die Finanzen des hier ebenfalls ansässigen Landesverbands der Jüdischen Gemeinden Sachsen. „Wir sind alle Juden!“, sagt Tsirkina.
Deutsche Juden sind zur kleinen Minderheit geworden
Hatte man bislang nur grob gewusst, dass „Russen“ den überwiegenden Anteil der Gemeindemitglieder stellen, erfährt man von ihr nun Details: Fast zwei Drittel der etwa 700 Gemeindemitglieder stammen aus der Ukraine, ein Drittel der zu Beginn der 1990er Jahre zugewanderten Kontingentflüchtlinge und Spätaussiedler kamen aus dem russischen Kerngebiet. Deutsche der ursprünglichen Gemeinde stellen nur noch einen Anteil zwischen 5 und 10 Prozent.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte das jüdische Leben in Dresden schon einmal durch osteuropäische Zuwanderung eine Auffrischung erfahren. Sie brachten auch eine orthodoxe Strömung mit, die eigene Betstuben nutzte, während sich liberale Juden in der großen Synagoge einfanden. Heute gibt es neben der Synagogengemeinde auch wieder eine orthodoxe Chabad-Gemeinde, die in einer Villa des Stadtteils Strehlen friedlich koexistiert.
Nach einer amtlichen Volkszählung von 1933 lebten in Dresden damals 4.675 Juden; was einem Anteil von 0,7 Prozent der Stadtbevölkerung entsprach. Verfolgung, Deportation und Massenmord brachten das jüdische Leben fast zum Erliegen. Nach dem Wiederbeginn in einer kleinen Synagoge am Jüdischen Friedhof fanden sich zu DDR-Zeiten nur wenige, häufig ältere Juden zusammen.
Das änderte sich nach der Wiedervereinigung, als 1991 die Ministerpräsidenten der Bundesländer jüdischen Emigranten aus der zerfallenden Sowjetunion die Einwanderung ermöglichten. Etwa 85.000 von ihnen fanden den Weg in deutsche Gemeinden, die daraufhin um ein Vielfaches anwuchsen. So ist auch die Jüdische Gemeinde Dresden seit rund 30 Jahren eine zweisprachige Enklave, wo die russische oder eben auch die ukrainische Sprache dominieren.
„Ich vereinige vier Kulturen in mir“
Wie wenig man mit nationalen Zuordnungen weder in der Ukraine noch in der Dresdner Gemeinde weiterkommt, veranschaulicht Pawel, genannt „Pascha“. Ein 64-jähriger bärtiger und lebenskluger Mann aus dem Gemeindevorstand, formal ein Ukrainer. Er kam 2011 mit Frau, Sohn und der heute 92-jährigen Mutter nach Dresden. „Ich vereinige vier Kulturen in mir“, gibt er zu bedenken. Sein Vater war halb Ukrainer und halb Pole, die Mutter eine russische Jüdin. „Das ist gut, und das ist schlecht“, lacht er, „jedenfalls kompliziert.“ Elena steuert die Bemerkung bei, dass unter dem Dach der ehemaligen Sowjetunion etwa hundert Völker vereint waren.
Nicht nur in der Dresdner Jüdischen Gemeinde scheinen mögliche ethnische Konflikte durch die übergeordneten jüdischen Identität aufgehoben. Pawel ordnet Differenzen ohnehin weniger einer Nationalitätenkollision als der Einstellung zur Demokratie zu. Vorwiegend Ältere hingen noch dem Sowjetsystem nach, Jüngere seien westlich-demokratisch eingestellt. „Pascha“ vertritt die von den zahlreichen deutschen Putin-Verstehern gar nicht gelittene These, dem Krieg gegen die Ukraine liege kein militärisches Sicherheitsdenken, sondern die Alternative des freiheitlich-individualistischen Gedankens oder eines autoritär-zentralistischen Systems zugrunde.
Hilfsnetzwerk Rund 30 Initiativen und NS-Gedenkstätten in Deutschland haben ein Hilfsnetzwerk für Überlebende der Naziverfolgung in der Ukraine gegründet. Etwa 42.000 überwiegend hochbetagte Überlebende leben nach Angaben des Arolsen Archives in der Ukraine. Wegen des Angriffs Russlands würden Lebensmittel, Medikamente und Kleidung knapp oder stünden gar nicht mehr zur Verfügung.
Unterstützung gesucht Die in dem Hilfsnetzwerk zusammengeschlossenen Vereine, Stiftungen, Erinnerungsorte und Gedenkstätten verfügen über langjährige Kontakte zu Überlebenden und haben Kooperationspartner vor Ort. Sie wollten mit Hilfe von Spenden schnell und unbürokratisch den letzten lebenden Naziopfern und ihren Familien in der Ukraine helfen. Außerdem bräuchten die Partnerorganisationen in der Ukraine, in Belarus und in Russland dringend Unterstützung.
Spendenkonto Der Berliner Verein Kontakte verwaltet das Spendenkonto des Hilfsnetzwerks: Empfänger: Kontakte-Kontakty e. V.
IBAN: DE59 1009 0000 2888 9620 02
BIC: BEVODEBB
Also habe es auch in der Gemeinde Putin-Anhänger und dessen Gegner gegeben, bestätigen die anderen Gesprächspartnerinnen. Aber man habe immer miteinander gekonnt, man dürfe jetzt nicht künstlich einen Konflikt konstruieren. Elena Tsirkina erinnert lächelnd daran, dass Ukrainer in der Gemeinde 2014 nach der Krim-Annexion zwar demonstrativ und trotzig Ukrainisch sprachen: „Aber das haben sie nur wenige Tage durchgehalten.“
Nicht ganz so eindeutig fallen Antworten auf die Frage aus, ob der Kriegsbeginn daran etwas geändert und latente Animositäten geweckt habe. Wieder kommt Elena Tsirkinas: „Wir sind alle Juden!“ Die drei Gesprächspartner Elena, Pawel und Jekaterina verbindet darüber hinaus ihre Sympathie für die Demokratie und die klare Absage an das Putin-System. Sie versichern, dass der Krieg über politische Zuneigungen hinweg einhellig von der Gemeinde verurteilt werde.
Das bestätigt Nora Goldenbogen für den sächsischen Landesverband der Jüdischen Gemeinden, ja für den Zentralrat der Juden in Deutschland insgesamt. Bevor sie Vorsitzende des Landesverbands wurde, stand sie der Dresdner Gemeinde vor. Sie sei auch persönlich schockiert, habe „so viel Brutalität und Radikalität nicht erwartet“. Es sei jetzt besonders wichtig, in den Gemeinden weiter zu reden. „Die Unterschiede sollen uns nicht entzweien“, sorgt sich Goldenbogen.
Verständnis für Putin-Gläubige
Die deutlichste Position zum Krieg und den russischen Verbrechen bezieht die Russin Jekaterina Kulakowa, kurz Katja gerufen. Mit Wladimir Iljitsch Lenin teilt sie den Geburtsort Uljanowsk. Sie steht der Repräsentantenversammlung der Dresdner Gemeinde vor. Schon äußerlich eine imposante Erscheinung, beeindruckt Kulakowa noch mehr durch kluge Analysen. Ihr Auftreten ruft in Erinnerung, wofür man das russische Wesen eigentlich lieben kann. Ernst, ja Tragik, gepaart mit gewinnender Herzlichkeit. Schon nach einer Viertelstunde wird der Reporter mit dem vertraulichen „Mischa“ angeredet. Hätte nur noch „Sto Gramm Wodka“, also das sprichwörtliche Hundertmilliliterglas Wodka, zum Anstoßen gefehlt.
Katja Kulakowa zitiert den polnischen Essayisten Adam Michnik. Patriotismus sei das Ausmaß an Scham darüber, was die eigene Regierung im Namen des Volkes gemacht habe. Solche Scham empfänden jetzt viele Russen, sagt sie. Wenn dennoch so viele dem Putin-Regime folgten, so komme das nicht aus der ursprünglichen russischen Seele. Das sei vielmehr als Großmachtgedanke künstlich von oben geprägt worden, der mit der Zeit in die Köpfe der Leute eingesickert sei. Nicht erst seit der Oktoberrevolution 1917, nicht erst seit dem Sieg über Hitlerdeutschland im Großen Vaterländischen Krieg. Sondern seit dem von Peter dem Großen verankerten Selbstbild: „Wir sind stark, wir sind das beste Volk der Erde.“ Deshalb, so sagt es Katja Kulakowa, glaubten diese Menschen auch entscheiden zu dürfen, wie die Nachbarn zu leben hätten. Nach dem Verlust imperialer Größe mit dem Zerfall der Sowjetunion 1991 herrsche nun der Gedanke vor, „das Russische Reich wiederherstellen zu müssen“.
Menschenkennerin Kulakowa äußert Verständnis für Reaktionen derer, die bislang an Putin glaubten. „Wenn ein Mensch sieht, dass falsch ist, woran er ein ganzes Leben lang zu glauben meinte, macht er lieber die Augen zu und wiederholt, was deklariert wird.“ „Wir beschäftigen uns zu wenig mit uns selbst“, schließt sie.
Solche Reflexionen habe der Krieg in der Jüdischen Gemeinde Dresden angestoßen. Wieder beschreibt Kulakowa die Konsequenz, ja die Flucht nach vorn aus einem möglicherweise drohenden Schisma am treffendsten. Sie bezeichnet die Besinnung auf das verbindende jüdische Bekenntnis als „selbstbewusste Orientierung für die Gemeinde“. „Das ist der einzige Weg, der uns hilft, katastrophale Gespräche über den großen Putin oder den großen Selenski zu vermeiden.“
„Nur Aktion hilft, nicht das Diskutieren“
Aus dieser Besinnung auf das Gemeinsame und aus der dominierenden Verurteilung des Krieges folgt die ebenfalls verbindende Hilfe aller für die Opfer des Krieges. „Nur Aktion hilft, nicht das Diskutieren“, sagt der Gemeindevorsitzender Hurshell. Allein schon wegen der zahlreichen persönlichen Verbindungen waren die Gemeindemitglieder bei der Flüchtlingshilfe schneller dabei als die Stadt Dresden. „Pascha“ Nedselskij beherbergte in der Vierzimmerwohnung neben seiner Familie zeitweise noch vier weitere Verwandte und Bekannte. Manche Dresdner Juden sind kurz nach Kriegsbeginn noch mit dem eigenen Auto vor allem in die Westukraine gefahren, um Verwandte herauszuholen. Die deutschen Behörden erwiesen sich als nicht gerade beweglich in solchen akuten Notfällen, spottet Elena ein wenig. Vielmehr habe die Mundpropaganda verbreitet, dass in der Jüdischen Gemeinde schnell geholfen werde und fast alle Russisch sprechen.
Die Spendenbereitschaft ist riesig. Gemeinsam mit der überwiegend deutsch-russischen Begegnungsstätte „Kolibri“ richtet man im Gemeindesaal einen provisorischen Unterricht für die ersten 35 ukrainischen Kinder ein. Nach jüdischer Religionszugehörigkeit wird nicht gefragt.
Zurück zudem blau-weißen Polizeiwagen vor der Synagoge. Kommt nun zum latenten Antisemitismus noch ein wachsender Russenhass hinzu? Nach Erfahrungen mit ersten Übergriffen und Beleidigungen warnen das Bundesinnenministerium und auch das sächsische Landeskriminalamt. Die Dresdner Gemeindemitglieder sprechen dieses fatale Thema nicht von sich aus an. „Vorurteile gegen Russen gab es schon vor dem Ukrainekrieg“, blickt die Gesprächsrunde einstimmig zurück. Sie spiegeln die typisch ostdeutsche Ambivalenz zwischen der tradierten deutsch-sowjetischen Freundschaft in der DDR, neoautoritären Putin-Verstehern und den ebenso tradierten Hassern des alten und neuen Sowjetimperialismus.
Es sind mehr atmosphärisch gefühlte Veränderungen, die Gemeindemitglieder wahrnehmen. Persönlich attackiert worden ist niemand. Welcher Deutsche könnte auf der Straße schon zwischen Russisch und Ukrainisch unterscheiden? Katja Kulakowa erzählt verschmitzt lächelnd, wie der Krieg plötzlich ein neues Nachbarschaftsverhältnis eröffnet habe. 16 Jahre lang wussten Wohnungsnachbarn nicht, dass sie Jüdin ist. Wegen ihres russischen Idioms aber wurde sie nun offen nach ihrer Haltung zum Krieg befragt. Als das geklärt war, „war alles wieder locker“, freut sie sich über das Interesse der sonst nicht gerade kontaktfreudigen Deutschen.
Nora Goldenbogen, Vorsitzende des sächsischen Landesverbands der Jüdischen Gemeinden
Nicht so locker sieht es die Landesverbandsvorsitzende Nora Goldenbogen. Bedächtig wiegt sie den Kopf und fürchtet, „dass der Antisemitismus nicht hinter der Russenfrage zurücktreten wird“. Für jüdische Bürger erwartet sie eher eine Doppelbelastung. „Judenhass und Russenhass werden sich verbinden!“
Freitagabend zur Schabbatfeier kommen zwar nur sieben Besucher in die Synagoge, weitere zehn verfolgen sie online. Aber es herrscht keine deprimierte Stimmung, Scherze werden davor und danach gewechselt. „Wie geht es der Katze?“ Der Krieg aber verändert auch den gewohnten Ablauf. Auf das große Gotteslob des Kaddisch Jatom folgt ein besonderes Schalom-Friedensgebet. Die Gesprächsrunde verabschiedet sich mit dem hebräischen Trinkspruch Lechajim, was so viel bedeutet wie: „Auf das Leben!“
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