Debatte: Mehr Rücksicht auf die Brüder
Polen vertritt im Streit über die EU-Verfassung ein legitimes Anliegen. Auch in Berlin sitzen nicht die Engel der Integration - das muss die deutsche Öffentlichkeit noch lernen
E ndlich sind die deutsch-polnischen Beziehungen wieder einfach: auf der einen Seite Polen unter seiner provinziellen Regierung, die mehr geistige Energie in die Frage der sexuellen Orientierung der Teletubbies investiert als in die Frage nach der Zukunft Europas. Auf der anderen Seite Deutschland als die Personifizierung des aufgeklärten Altruismus, die den Warschauer Regierungszwillingen - das Wohl von Ganzeuropa fest im Blick - eine goldene Brücke nach der anderen in Richtung wahrhaftiger europäischer Demokratie baut.
Diese Sicht ist aufgrund der innenpolitischen Entwicklungen in Polen und der oftmals für deutsche Ohren schrillen Töne aus Warschau verständlich. Dadurch wird sie aber nicht wahrer. Denn ganz davon abgesehen, dass der Verfassungsprozess nicht von Polen angehalten wurde, sondern durch die gescheiterten Referenden in Frankreich und den Niederlanden - das Problem der deutsch-polnischen Beziehungen liegt nicht in einer polnischen Außenpolitik halsstarriger Unvernunft. Gewiss: Die Kaczynskis sind konservativer, nationaler und klerikaler als alle Regierungen seit dem Epochenumbruch von 1989, und die Regierung fällt gerne durch antideutsche, antisemitische und homophobe Ausfälle auf. Doch ist dies nicht der Grund für die sich immer weiter verschärfende deutsch-polnische Krise, das hat die deutsche Öffentlichkeit bisher nicht verstanden.
Viel wichtiger als die unerquicklichen innenpolitischen Verhältnisse in Polen und die damit verbundene außenpolitische Vorschlaghammerrhetorik, zum Beispiel eines angekündigten Heldentodes für die "Quadratwurzel", sind die grundlegenden und langfristig definierten nationalen Interessen Warschaus. Denn die Interpretation dieser Interessen durch die gegenwärtige Regierungskoalition unterscheidet sich deutlich weniger von der Interpretation ihrer Vorgängerregierungen, als es auf den ersten Blick scheint.
Zwar haben die Kaczynskis die Zustimmung zu dem Kompromiss der Abstimmungsmodalitäten aufgekündigt, dem rund ein Jahr vor ihrem Wahlerfolg der Premier der sozialdemokratischen Vorgängerregierung, Belka, im Juni 2004 noch zugestimmt hatte. Es gibt aber eine Vorgeschichte, ohne die die Abneigung Kaczynskis gegenüber der seinerzeit erreichten Lösung zur "doppelten Mehrheit" nicht zu verstehen ist: Dieser Kompromiss wurde ausgehandelt, nachdem die Polen dem entsprechenden Passus im Verfassungsvertrag im Dezember 2003 in Brüssel eine Absage erteilten, weil sie schon damals die Regelung der doppelten Mehrheit für unannehmbar hielten.
Dieses Veto von 2003 erging jedoch nicht einfach aus einer Winterlaune heraus. Sondern weil diese Regelung Polen deutlich schlechter gestellt hätte als die Vereinbarung, auf die sich bei der vorherigen Regierungskonferenz 2000 in Nizza ausnahmslos alle Mitglied- und Kandidatenstaaten geeinigt hatten. Denn damals hatte Gerhard Schröder durchgesetzt, dass Polen ein Stimmengewicht erhalten sollte, das es zu einem der "Großen" in der Union gemacht hätte. Mit 27 Stimmen im Rat wäre Warschau so Madrid gleichgestellt gewesen und hätte nur über zwei Stimmen weniger verfügt als Berlin, London, Rom und Paris. Das war damals in Polen als riesiger Erfolg und Zeichen der Anerkennung der Nation in Europa gefeiert worden und bot der Regierung ein gutes Argument, um die Bevölkerung im landesweiten Referendum zu überzeugen, für den EU-Beitritt zu stimmen.
Als kurze Zeit später in Brüssel der veränderte Vorschlag auf den Tisch kam, der diesen Erfolg wieder zunichte machen und Warschau eines wichtigen Teils seines Stimmgewichtes berauben sollte, fühlte sich Polen verständlicherweise über den Tisch gezogen. Das war ein wenig so, als hätte man einen Urlaub in einem aparten Hotel in Nizza gebucht und wird dann auf dem Flughafen vor die Wahl gestellt, entweder eine Jugendherberge in Bottrop zu beziehen oder doch einfach zu Hause zu bleiben. Das gleiche Deutschland, dass sich in Nizza so großzügig gezeigt hatte, erklärte die Vereinbarung für hinfällig und sah auch keinen Grund, was es darüber mit den Polen zu besprechen gäbe. Die meisten Experten sind sich so mittlerweile einig, dass ein Großteil der Verantwortung für die Verschlechterung der bilateralen Beziehungen Berlin anzulasten ist, das Polen gerne als Juniorpartner behandelt, dessen Anliegen und Bedenken letztlich zu vernachlässigen sind.
Darüber hinaus erscheint es gerade für Berlin als höchste Zeit, sich von dem unzutreffenden Selbstbild zu verabschieden, Deutschland sei schon immer der von Selbstlosigkeit angetriebene Motor der europäischen Einigung gewesen. Die Bundesrepublik ist einer der größten Nutznießer der Integration, einschließlich der Osterweiterung. Eine wirtschaftlich starke Nation wie Deutschland tritt für europaweite Deregulierung oder die Aufnahme neuer Mitglieder in der Regel nicht aus naiver Europa-Euphorie, sondern aufgrund von harten Interessenkalkulationen ein.
Was die deutsche Politik und Öffentlichkeit noch lernen müssen, ist, dass das Eintreten für die eigenen, als legitim verstandenen Interessen nichts Anstößiges ist. Deutschland ist kein Engel der Integration und muss es auch nicht sein. Deshalb sollte es seine Interessen nach innen wie nach außen klarer und ohne Scheu definieren. Gleichzeitig darf es hierbei seine Sonderstellung als mit Abstand größtes EU-Mitglied und die entsprechend notwendige Rücksicht auf die daraus resultierenden besonderen Sicherheitsbedürfnisse der übrigen Partner nicht aus dem Blick verlieren. Das gilt insbesondere für deutlich kleinere und wirtschaftlich wie strategisch verwundbarere Mitglieder wie Polen. Denn wer davon überzeugt ist, dass sein Handeln stets am Wohle aller ausgerichtet ist, betrachtet abweichende Positionen notwendig als "Gemeinwohl"-feindlich.
Eine zweite wichtige Lektion ist aus den deutsch-polnischen Krisenjahren zu ziehen. Nachdem bis zum EU-Beitritt das große Projekt "Erweiterung" Berlin und Warschau zusammengeschweißt hat, läutete seine Verwirklichung am 1. Mai 2004 eine neue Phase ein: Der Schwerpunkt der bilateralen Beziehungen hat sich auf die einzelnen, konkreten Politikfelder verlagert - und hier stimmen die Interessen Deutschlands und Polens in zentralen Bereichen wie der Außen- und Sicherheitspolitik (transatlantische Beziehungen), dem Binnenmarkt (Dienstleistungs- und Arbeitnehmerfreizügigkeit), der Energiepolitik (Ostseepipeline), der Erweiterungspolitik (Ukraine) sowie bei der Europäischen Verfassung (doppelte Mehrheit) kaum überein.
Solche Interessendivergenzen sind in Europa nichts Neues. Deshalb sind Forderungen, Polen solle entweder mitziehen oder aus der EU austreten, unsinnig. Im Gegenteil: Nachdem Warschau sich schon kompromissbereit zeigt, sollte die deutsche Präsidentschaft den Kaczynskis aus der Schmollecke helfen. Dazu braucht es eine Lösung, bei der die Brüder ihr Gesicht wahren können.
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