Debatte um „Vaterjuden“: Verschleppter Konflikt
Vor 30 Jahren legte der deutsche Staat durch Einwanderungsregeln fest, wer jüdisch ist. Heute dreht sich die Debatte um Befindlichkeiten.
Seit einigen Wochen geistern ein Name und ein Begriff durch die deutschen Feuilletons: Max Czollek und „Vaterjude“. Anfang August hatte Autor Maxim Biller dem Publizisten Max Czollek in einer Zeit-Kolumne abgesprochen, der Halacha nach Jude zu sein. Die Halacha, das jüdische Religionsgesetz, besagt nämlich, dass jüdisch ist, wer eine jüdische Mutter hat oder zum Judentum konvertiert ist. Auf Czollek trifft das nicht zu.
Czollek selbst wies die Vorwürfe zurück. Auf Twitter schrieb er, er habe nie öffentlich oder privat behauptet, dass seine Mutter jüdisch sei. Er sprach sich außerdem dafür aus, die Debatte über Pluralität im Judentum weiterzuführen.
In der Jüdischen Allgemeinen schaltete sich kurze Zeit später der Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, Josef Schuster, mit einem kurzen Gastbeitrag ein. Wenig überraschend war seine Argumentation: Ob man jüdisch sei oder nicht, richte sich nach den Regeln der Religion. Czollek mag sich dem Judentum nahe fühlen, ein echter Jude werde er dadurch trotzdem nicht. So Schusters Urteil.
Meron Mendel, Leiter der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main, widersprach daraufhin auf Zeit Online. Er forderte Pluralismus und die Anerkennung „hybrider Identitäten“. Später äußerten sich Autorin Mirna Funk in der FAZ, Tuvia Tenenbom im Spiegel sowie Sasha Marianna Salzmann ebenfalls in der FAZ.
Konservative und orthodoxe Stimmen fordern in der Debatte, sich an religiöse Regeln zu halten. Progressive Stimmen wünschen sich die Inklusion von sogenannten Vaterjuden, also solchen Menschen, deren Vater jüdisch ist.
Zudem sehen Unterstützer:innen von Czollek in der Fixierung auf seine Person einen Vorwand, „um einen engagierten Befürworter einer pluralistischen Gesellschaft zu diskreditieren“, wie es in einer aktuellen Stellungnahme zahlreicher Personen aus der Kultur- und Journalismusbranche heißt. Sasha Marianna Salzmann sieht in Czollek gar das Mitglied einer Minderheit, das „weniger Sprechzeit“ in dieser Gesellschaft habe und betrachtet gleichzeitig Czolleks jüdische Kritiker:innen als solche, die ihm „die viele Redezeit“ neideten. Dass sich beide Punkte widersprechen, geschenkt.
Einwanderung aus der Sowjetunion
Wer sich in den vergangenen 30 Jahren mit der Geschichte der in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden befasst hat, wird der derzeitigen Auseinandersetzung etwas überdrüssig sein. Was hier anklingt, ähnelt einer Diskussion, die in den 1990er Jahren in Deutschland fernab der deutschen Öffentlichkeit geführt wurde. Heute zeigt sich: Wirklich weitergekommen scheint in der Diskussion niemand zu sein.
Als ab Beginn der 1990er Jahre über 200.000 Jüdinnen und Juden und ihre Familien aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland einwanderten, wurde schon einmal die Frage verhandelt, wer jüdisch genug war. Die Antwort darauf entschied darüber, wer einreisen durfte und wer nicht.
Deutsche Politiker:innen und jüdische Funktionäre, wie der damalige Zentralratsvorsitzende Heinz Galinski, brachten gemeinsam die Einwanderung postsowjetischer Jüdinnen und Juden auf den Weg. Für sie schaffte man einen juristischen Rahmen: Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion konnten als sogenannte „Kontingentflüchtlinge“ einreisen.
Blühendes jüdisches Leben
Vonseiten der jüdischen Institutionen setzte man Hoffnung in die Ankömmlinge. In ihnen sah man die Chance, die überalterten Gemeinden wieder aufblühen zu lassen. Denn 1990 betrug die Mitgliederzahl gerade einmal 29.089. Nach dem Zuzug waren es bald schon wieder knapp über 100.000 Mitglieder.
Um nur wenige Jahrzehnte nach der Shoa und den Nürnberger Gesetzen die unangenehme Situation zu vermeiden, als deutscher Staat Stammbäume jüdischer Menschen zu durchforsten, griff man auf die sowjetische, schon vorhandene Definition zurück. Dort bestand die Vorstellung einer jüdischen Nationalität, die nazionalnost, die wie andere politische Ethnien, Russe, Ukrainer oder Tatare, im sowjetischen Pass unter Punkt fünf vermerkt wurde. Im Gegensatz zu den Gesetzen der Halacha übertrug sich diese Nationalität über den Vater. In der Sowjetunion waren vaterjüdische Identitäten also gelebte Realität.
Postsowjetische Jüdinnen und Juden und ihre Familienmitglieder konnten unter diesen Gesichtspunkten in den 1990er Jahren also rechtmäßig nach Deutschland einwandern. Sie trugen maßgeblich dazu bei, dass sich Deutschland bis heute damit schmücken kann, wieder zu einem „blühenden jüdischen Leben“ gefunden zu haben. Sie stärkten die Positionen des Zentralrats und belebten die Gemeinden, die vom Aussterben bedroht waren.
Ausschluss aus der Gemeinde
In den meisten orthodoxen Gemeinden fanden diese Menschen nach ihrer Ankunft in Deutschland allerdings keinen Platz. Über die Hälfte der postsowjetischen Jüdinnen und Juden ist heute kein Mitglied in einer Gemeinde – weil ihnen als Vaterjuden der Weg verwehrt blieb oder sie schlicht kein Interesse hatten. Für die Einreise jüdisch genug, für die Gemeinde aber nicht.
Was sich in den 90er Jahren beobachten ließ, war ein Zusammenprall zweier unterschiedlicher Verständnisse von Jüdischkeit: Orthodox-religiöse Identitätsvorstellungen stießen auf säkulare postsowjetische Jüdinnen und Juden. Dass diese säkularen Juden weitestgehend assimiliert in ihren Herkunftsländern gelebt hatten und wenig Wissen in Bezug auf religiöse Rituale mitbrachten, wurde in Deutschland als Defizit gewertet. Bis heute hält sich diese Ansicht.
Wo man damals die Einwanderung damit begründete, bedrohte Juden aufzunehmen, steht seit 2005 explizit die weitere Existenz der jüdischen Gemeinden im Zentrum. In jenem Jahr erfolgte die Reform des Einwanderungsverfahrens für jüdische Zuwander:innen. Dafür starkgemacht hatte sich der Zentralrat der Juden, de facto führte das zum Rückgang der Zuwander:innenzahl.
Die Aufnahmeregeln zum „Aufnahmeverfahren für jüdische Zuwanderinnen und Zuwanderer“ des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge sind seit 2005 strenger formuliert: Sie zielen darauf ab, nur noch solche Jüdinnen und Juden einreisen zu lassen, die sich auch klar zur jüdischen Religion bekennen. Potenzielle russisch-jüdische und meist säkulare Einwander:innen müssen den Behörden eine religiös-jüdische Identität vorgaukeln, um ihren Aufnahmeantrag bewilligt zu bekommen. Dass das wenig sinnvoll und nachhaltig ist, dürfte klar sein.
Mehrheit einer Minderheit
Die aktuelle Vaterjuden-Debatte ist vor diesem Hintergrund zurückgeblieben. 30 Jahre nach dem Beginn der Einwanderung von säkularen postsowjetischen Jüdinnen und Juden fokussiert man sich lieber auf Befindlichkeiten einzelner Personen, anstatt Probleme und Realitäten normaler Menschen zu thematisieren.
Die Erfahrung russischsprachiger Jüdinnen und Juden ist eben eine besondere. Sie ist geprägt durch Ausschlüsse. Einerseits als vermeintlich defizitäre Juden, weil sie säkular leben, und anderseits als Zuwanderer:innen, die von alteingesessenen Juden und der Mehrheitsgesellschaft oftmals nur als Migrant:innen wahrgenommen wurden. Im deutschen Diskurs findet diese Problemdarstellung selten Platz. Dabei bilden sie, die postsowjetischen Jüdinnen und Juden, die Mehrheit einer Minderheit. Sie bleiben, mal wieder, unsichtbar.
Dass die Fokussierung auf Max Czollek und persönliche Angriffe gegen ihn daneben sind, sollte klar sein. Doch der Punkt ist: Czollek hat wenig zu befürchten. Eine Person wie er, die als Publizist in der deutschen Öffentlichkeit einen festen Platz hat, deren Bücher und Texte in den Feuilletons positiv besprochen werden; eine Person also, die anerkannt und schon jetzt gehört wird, nimmt eine privilegierte Position ein. Dagegen sieht es für postsowjetische Jüdinnen und Juden, deren Identitäten seit 30 Jahren Gegenstand von Beurteilungen sind, schlecht aus.
Konflikt zwischen Alten und Neuen
Der Großteil der derzeitigen Debattenbeiträge trifft also nicht den Kern. Worum es doch wirklich geht, sind nicht die angeblich verheimlichten Familienverhältnisse des Publizisten Czollek, sondern ein verschleppter Konflikt, der vor 30 Jahren zwischen jüdischen Institutionen und den neu zugewanderten Jüdinnen und Juden entstanden ist.
Jahrzehnte interessierte sich kaum jemand für die Ungerechtigkeiten, die an der Einwanderungspraxis für jüdische Zuwander:innen aus der ehemaligen Sowjetunion hingen. Nach 30 Jahren ist es an der Zeit, genau darüber zu sprechen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Stellenabbau bei Thyssenkrupp
Auf dem Rücken der Beschäftigten