Debatte um Sterbehilfe: Wenn Leben nur noch Leiden ist
Der ärztlich assistierte Suizid muss in Notlagen möglich werden. Zwei neue Gesetzentwürfe zeigen brauchbare Wege, wie das gehen kann.
Der 90-Jährige wohnte nach dem Tod seiner Frau alleine in einer Seniorenresidenz. Altersgebrechen und die Einsamkeit quälten ihn. Ein Mitarbeiter eines Sterbehilfevereins brachte ihm den Medikamentencocktail vorbei, mit dem der Mann in dem Heim seinem Leben ein Ende setzte.
Die Diskussion um die Sterbehilfe ist hochaktuell, nicht nur wegen Fällen wie diesem. Ulrich Lilie, Präsident der Diakonie und zwei TheologInnen haben in einem Beitrag in der FAZ gefordert, in kirchlich-diakonischen Häusern „abgesicherte Möglichkeiten eines assistierten Suizids“ zumindest zuzulassen. In der taz warnte dagegen der evangelische Pfarrer und Theologe Hans Bartosch: „Finger weg vom assistierten Suizid, auf jeden Fall in kirchlichen Häusern“.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem wegweisenden Urteil vom Februar 2020 das „Recht auf selbstbestimmtes Sterben“ betont, auch mit der Freiheit, dabei von Dritten „Hilfe in Anspruch“ zu nehmen. Der Gesetzgeber soll nun Regeln für den Umgang mit dem assistierten Suizid entwickeln. Zwei Gesetzentwürfe von Bundestagsabgeordneten liegen jetzt vor. Die Gemengelage aus dem Recht auf Selbstbestimmung, der Berufsordnung der Ärzte und moralischen Bewertungen der Suizidhilfe ist kompliziert.
Keine Ärztin und kein Arzt kann dazu verpflichtet werden, bei einem Suizid zu assistieren, das hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt. Aber einige MedizinerInnen sehen extreme Notlagen ihrer PatientInnen und wollen helfen. Wird die Berufsordnung der Ärzte, die in einigen Bundesländern den assistierten Suizid verbieten, liberalisiert, stehen die MedizinerInnen in der Praxis vor der Frage, wer genau von den PatientInnen mit Sterbewunsch denn nun von dem Arzt oder der Ärztin ein tödliches Mittel verschrieben bekommen sollte – und wer nicht.
Sehr liberal ist man bereits in den Niederlanden und ein Blick in den dortigen Jahresbericht 2019 der Regionalen Kontrollkommissionen für Sterbehilfe zeigt, was diese Liberalisierung in der Praxis bedeuten könnte. In den Niederlanden ist nicht nur die Hilfe zum Suizid, sondern auch ärztliche Tötung auf Verlangen erlaubt, was in Deutschland verboten ist. In den meisten Fällen wird Sterbehilfe von HausärztInnen geleistet, wobei mindestens eine weitere ÄrztIn konsultiert werden muss.
Wenn kein anderer Ausweg bleibt
In der Statistik des Berichts über die geleistete Sterbehilfe finden sich zum größten Teil unheilbar Krebskranke, die ihr Leiden beenden wollten. Aber es gibt darin auch Menschen im Frühstadium einer Demenz, die das spätere Stadium des Verfalls nicht erleben wollten. Ein Mann wiederum hatte nach der Diagnose Alzheimer eine Patientenverfügung verfasst, laut der er im späten Stadium der Demenz vom Arzt die einschläfernde Spritze bekommen wollte. Die Tötung wurde vollzogen in einer Phase, in der der Patient selbst keinen expliziten Sterbewunsch mehr äußern konnte.
Ein weiterer Schwerkranker, der Sterbehilfe bekam, hatte den Entschluss aufgrund seiner Erblindung getroffen. Ein psychisch Kranker hatte sich den Tod gewünscht und dies mehrfach geäußert, weil sein schweres Leiden auch nach jahrelangen Therapieversuchen nicht zu bessern war.
Was an diesen Fällen berührt, ist das extreme Leiden der PatientInnen und die Ausweglosigkeit, die jede Bewertung ihrer Situation durch Außenstehende vermessen erscheinen lässt. Die KritikerInnen der liberalisierten Sterbehilfe verweisen auf deren gesellschaftliche Nebenwirkungen und das Risiko, dass die Schwelle zum Suizid abgesenkt und die Akzeptanz von Pflegebedürftigkeit schwinden könnte.
Konkretes Leid, abstrakte Sorgen
Aber wenn der wichtigste Maßstab für ethisches Handeln das konkrete Leid und dessen Linderung sein sollte, dann muss die – empirisch nicht belegbare – Sorge vor irgendeinem Wertewandel zum Schlechten durch Suizidhilfe hintenanstehen.
Das Anliegen, die Sterbehilfe an ein Beratungsnetzwerk von ÄrztInnen und anderen Fachleuten zu binden, wie es in den Niederlanden der Fall ist, findet sich auch in den beiden vorliegenden Gesetzentwürfen zur Suizidassistenz in Deutschland. Und das ist zu begrüßen.
Der interfraktionelle Entwurf der Bundestagsabgeordneten Katrin Helling-Plahr (FDP), Karl Lauterbach (SPD) und Petra Sitte (Linke) fordert beim ärztlich assistierten Suizid eine Pflicht zur vorgeschalteten Beratung, ähnlich wie im Abtreibungsrecht. Ein Arzt oder eine Ärztin sollten nur dann einem Suizidwilligen das tödliche Medikament verschreiben dürfen, wenn diese oder dieser eine Bescheinigung einer unabhängigen dritten Stelle vorlegt, an einer Beratung teilgenommen zu haben – wobei die Beratung keinesfalls über ein Ja oder Nein entscheiden darf. Suizidwillige müssen voll zurechnungsfähig sein.
Gesundheitsminister Spahn bremst
Ein Weg, solche Verfahren durchzusetzen, könnte sich aus der Medikamentenfrage ergeben. Das wirksamste Mittel zum Suizid, Natrium-Pentobarbital, ist in Deutschland bei Menschen verboten und nur für die Einschläferung von Tieren zugelassen.
Die Aufhebung dieses Verbotes im Betäubungsmittelgesetz wird in den Gesetzentwürfen von Helling-Plahr et al. und im Gesetzentwurf der Grünen-Abgeordneten Renate Künast und Katja Keul gefordert. Diese Freigabe könnte man daran binden, dass ÄrztInnen den PatientInnen dieses Mittel eben nur nach einer Beratung durch eine unabhängige Stelle und nach der Konsultation einer zweiten ÄrztIn verschreiben dürfen.
Dass die Gesetzesentwürfe eine Mehrheit im Bundestag finden, ist derzeit eher nicht zu erwarten. Von Gesundheitsminister Spahn (CDU) kommt kein Gesetzesvorschlag. Passiert nichts, sind die Betroffenen nach wie vor auf Sterbehilfevereine angewiesen, die Gebühren bis zu 10.000 Euro für ihre Dienste verlangen und mit eigenen Mischungen aus legalen Medikamenten arbeiten. Gegner des assistierten Suizids fördern so indirekt die Sterbehilfevereine, die sie an anderer Stelle gerne dämonisieren. Schräger geht’s nicht.
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