Debatte um Sandwesten: Kein Zaubermittel für unruhige Kinder
An Hamburger Schulen tragen einzelne Kinder Sandwesten zur besseren Konzentration. Ein Kinderpsychiater kritisiert das. Auch der Hersteller warnt, das Kleidungsstück ist kein Allheilmittel
Laut dem Bericht sind diese Westen, die aussehen wie Mini-Daunenwesten, bei Lehrern und Kindern beliebt. Die Sonderpädagogin einer Harburger Schule lernte sie in den USA kennen und sagt, sie habe sich, dafür stark gemacht, dass der Schulverein dieses Hilfsmittel kauft. Jetzt sollen sieben weitere her.
Bei Kindern, die unter Wahrnehmungsstörungen litten, kämen die Reize verquer an, erklärt die Pädagogin. Der gleichmäßige Druck der Sandwesten soll über die Muskel- und Belastungssensoren dem Gehirn neue Impulse geben. „Für die Kinder ist das wie ein behutsames Handauflegen, das gut tut“, ergänzt eine Kollegin. Und eine Schulleiterin sagt: „Ideal wäre, wenn wir für jede unserer 20 Klassen eine hätten. Immer griffbereit am Kleiderhaken.“
Die Kinder streiten in dem Bericht sogar darum, wer das Stück zuerst tragen darf. „Die Weste macht mich ruhiger“, sagt ein Junge. „Und meine Schrift ist dann nicht mehr so krakelig.“
Michael Schulte-Markwort, Klinikdirektor der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Uniklinik Eppendorf, kritisiert den Einsatz und sagt: „Mir sind diese Westen nicht als Therapie bekannt.“ Was man am Klinikum untersucht hat, ist etwas anderes: Licht hat in Klassenräumen Auswirkung auf Motivation und Konzentration. „Das Licht muss einen hohen Blauanteil und eine hohe Luxzahl haben“, sagt er. „Das Licht in den Schulen ist dramatisch schlecht“, sagt Schulte-Markwort.
Bei den Westen sieht er ethische Grenzen. „Wir machen so etwas nur bei Kindern, nicht bei Erwachsenen.“ Unruhe könne ganz verschiedene Ursachen haben. „Das kann das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADS) oder Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) oder eine Teilleistungsstörung sein, oder das Kind hat etwas Belastendes erlebt“, sagt der Kinderpsychiater. „Da möchte ich wissen, welche Unruhe das ist, dies muss ich diagnostizieren.“ In der Schule sei es ohnehin so: „Wenn ein Kind stört, muss das Kind sich ändern. Wir gucken nicht, wie können wir uns auf das Kind einstellen. Das muss man aber tun.“
Gar nicht glücklich mit der Aufmerksamkeit scheint der Hersteller zu sein, die „Beluga Healthcare“ im niedersächsischen Scheeßel. „Wir stellen diese Westen seit 18 Jahren her. Das ist aus der Ergotherapie heraus entwickelt“, sagt Roland Turley, der die Firma mit seiner Frau betreibt.
Die Idee entstand, als ein Ergotherapeut ein Hilfsmittel für ein Kind mit Down-Syndrom benötigte und bei der Firma für Tauchausrüstung anfragte, ob sie eine Weste herstellen könne. Seither habe man „tausende zufriedene Kunden“. Für Menschen mit Wahrnehmungsstörungen sei die Weste, oder alternativ auch eine Sanddecke, eine gute Hilfe.
Allerdings solle der Einsatz nur kurz erfolgen, da sonst im Gehirn ein Gewöhnungseffekt eintrete. „Eine Studie über die Wirksamkeit gibt es nicht“, sagt Turley. „Wir haben es versucht, aber bisher hatte kein Institut Interesse.“ Nur eine Ergotherapie-Studentin will im Rahmen ihrer Bachelorarbeit eine positive Wirkung bei Autisten festgestellt haben.
Die Firma hat nun eine Erklärung auf ihre Homepage gestellt. Trotz der Freude über die Öffentlichkeit wolle man nicht, dass die Produkte als „Zaubermittel bei jeder Form von Konzentrationsschwäche eingesetzt werden“. Nicht jedes unruhige Kind benötige eine Sandweste. Kinder müssten sie freiwillig tragen, und man brauche eine „fundierte Diagnose“, durch Ergotherapheuten oder Kinderärzte.
Die Schulbehörde bestätigt, dass die Westen an 13 Schulen regelmäßig eingesetzt werden. Auch wenn deren Wirkung nicht belegt sei, werde der Einsatz in Einzelfällen begrüßt. Eine Evaluation des möglichen Nutzens durch die Behörde ist aber nicht geplant.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Habeck fordert Milliardärssteuer
Wer glaubt noch an Robert Hood?
100 Jahre Verkehrsampeln
Wider das gängelnde Rot
++ Nachrichten zum Umsturz in Syrien ++
Baerbock warnt „Assads Folterknechte“
Mehr Zugverkehr wagen
Holt endlich den Fernverkehr ins Deutschlandticket!
Vorteile von physischen Spielen
Für mehr Plastik unterm Weihnachtsbaum
Gründe für das Aus der SPD-Kanzler
Warum Scholz scheiterte