Debatte um Holocaust-Erinnerung: Gedenkfeier im letzten Hauptquartier
In Schleswig-Holstein läuft eine Debatte um das Gedenken an die Schoah. Hat die gastgebende Marine ihre Rolle im NS-Regime hinreichend aufgearbeitet?
Woran, das ist schon die erste strittige Frage. Denn der Kieler Landtag hat sich für eine gemeinsame Gedenkveranstaltung für beide Anlässe entschieden, am kommenden Montag in der Marineschule Mürwik in Flensburg. Zum 8. Mai, dem Tag der Befreiung vom Faschismus, soll es keine eigene Veranstaltung des Landtags geben – obwohl Schleswig-Holstein ihn 2020 zum offiziellen Gedenktag gemacht hat.
Die beiden Gedenktage sind eng miteinander verknüpft, da beide auf die militärische Niederlage Deutschlands zurückgehen. Aber sie sind nicht dasselbe: Am 27. Januar geht es um die Opfer der Vernichtung in den Konzentrationslagern, am 8. Mai um die Befreiung aller Deutschen von der NS-Diktatur.
Die Landesarbeitsgemeinschaft Gedenkstätten und Erinnerungsorte in Schleswig-Holstein (LAGSH) hat nun die Verquickung beider Themen in einem offenen Brief an Landtagspräsidentin Kristina Herbst (CDU) kritisiert. Darin heißt es: „Völlig unverständlich ist für uns die Entscheidung, zum 80. Jahrestag des Kriegsendes vollständig auf eine eigene Landtagsveranstaltung zu verzichten.“
Gerhard Paul, Professor emeritus für Geschichte
Aber auch der Ort des gemeinsamen Gedenkaktes für beide Anlässe stößt den Erinnerungsarbeiter:innen auf: „Es ist für uns nicht nachvollziehbar“, schreiben sie, „das Gedenken an die Opfer des NS-Regimes – zentrale Aufgabe des 27. Januar – am ausgewiesenen Täterort in Mürwik zu praktizieren“.
Der LAGSH-Vorsitzende Heino Schomaker erläutert: „Wir sehen auch die Gefahr, dass die Erinnerung an die Holocaust-Opfer nur aus militärischer Perspektive gesehen wird und ihre Stigmatisierung und gesellschaftliche Ausgrenzung unter der NS-Herrschaft nicht thematisiert wird.“
Noch schärfer formuliert es Matthias Behring, Landesvorsitzender der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten: „So, wie die Veranstaltung jetzt geplant ist, finde ich es eine Katastrophe für alle Opfer des Nationalsozialismus.“
Eine Veranstaltung in Mürwik sei allenfalls vorstellbar im Kontext einer öffentlichen Dauerausstellung in der Kaserne, die die Verantwortung der Marine aufarbeitet – und sei es als Auftakt dazu. Ohne die sei der Gedenktag „geschichtsvergessen, dilettantisch und militaristisch ausgelegt“.
Dass der Marinestützpunkt in Flensburg ein Täterort ist, steht außer Frage: Von hier aus führte Hitlers Nachfolger als Reichskanzler, Großadmiral Karl Dönitz, die Regierung in der letzten Tagen vor der Kapitulation, erließ Durchhaltebefehle, die in den ersten Maitagen noch mal Tausende Soldaten in den Tod schickten. Von hier wurden Marineinfanteristen als Wachmannschaften in Konzentrationslager abgeordnet.
Mythos der „unpolitischen“ Militärregierung
Und von hier verbreitete Dönitz den Mythos von der „unpolitischen“ Militärregierung, der „sauberen“ Marine, die mit den Verbrechen der Nazis nicht recht etwas zu tun gehabt habe – obwohl in seiner Regierung Männer waren, die unmittelbar für das System der Konzentrationslager verantwortlich waren.
Der emeritierte Flensburger Geschichtsprofessor Gerhard Paul schreibt deshalb in einem eigenen Brief an die Landtagspräsidentin gar: „Die damalige,Marinekriegsschule Mürwik' ist ein Täterort par excellence.“ Die Entscheidung, „am 27. Januar in der Marineschule in Mürwik der Opfer der Naziherrschaft zu gedenken“, erscheine ihm „von Unwissen und mangelnder Sensibilität geprägt“.
Kaum ein Ort in Schleswig-Holstein eigne sich weniger für ein Gedenken an die Opfer des NS-Regimes, so der Historiker. Auch in Sachen Erinnerung oder Aufarbeitung der NS-Verbrechen habe sich die Bundeswehr in Mürwik „nie sonderlich hervorgetan“.
Die Marine wehrt sich gegen solche Vorwürfe. Ein Sprecher teilte auf taz-Anfrage mit, die Marineschule richte für ihre Offiziersanwärter:innen bereits seit zehn Jahren Gedenkveranstaltungen zum 27. Januar aus – gemeinsam mit der jüdischen Gemeinde Flensburg. „Dann hätte man damals was dagegen sagen müssen – da verstehe ich jetzt die Aufregung nicht.“
Der Landesvorsitzende der Jüdischen Gemeinschaft in Schleswig-Holstein, Igor Wolodarski, bestätigt das „sehr gute Verhältnis“. Die Marineschule sei aktiv in der Bekämpfung des Antisemitismus und für die Sichtbarkeit jüdischen Lebens. „Gerade an Orten wie Mürwik muss so etwas stattfinden – um zu zeigen, dass Deutschland sich verändert hat“, sagt er. „Nach der Logik der Täterorte würden Sie in Deutschland keinen Ort finden, an dem Gedenken stattfinden kann.“
Auch für Landtagspräsidentin Kristina Herbst ist „die Wahl der Marineschule Mürwik als Veranstaltungsort doch gerade das sichtbare Zeichen, dass der Geschichte etwas entgegengesetzt wird“. Erinnerung, so teilt sie mit, sei „dauerhafter Schmerz und zugleich dauerhafter Auftrag, für die Opfer Terrain zurückzugewinnen – physisch wie geistig!“
Die Landtagsabgeordnete der mitregierenden Grünen Uta Röpcke versteht, dass es gegen den Ort Mürwik Bedenken gibt. Die sieht sie jedoch durch die Beteiligung jüdischer Verbände in Teilen ausgeräumt: „Das sind ja die Opfer und Betroffenen, ihnen sollte die Deutungshoheit über die Ausgestaltung des Gedenkens zustehen.“ Außerdem habe sich die Marine am Standort intensiv mit der eigenen Geschichte auseinandergesetzt, etwa den Gedenkraum für den Nazi-Offizier Rolf Johannesson umgestaltet.
Büste von Nazi-Offizier nur umgeräumt
Kianusch Stender, Flensburger Abgeordneter der oppositionellen SPD, sieht das anders: „Die haben die Johannesson-Büste nur umgeräumt, einen Flur weiter.“ Und an der benachbarten „Schule für strategische Aufklärung“ prange nach wie vor ein riesiger Reichsadler über dem Eingang.
„Man kann Orte schon umdeuten“, sagt Stender, „aber dann muss auch die Bereitschaft da sein, die Symbole der NS-Diktatur abzunehmen.“ Er hat Hoffnung, dass die Debatte darüber nach der Gedenkveranstaltung wieder in Fahrt kommt.
Sein Fraktionskollege Martin Habersaat ist der Ansicht, man könne in Mürwik zwar der Kapitulation gedenken – nicht aber der Opfer des Holocaust. Den 8. Mai am 27. Januar einfach „mitzubegehen“, erscheint ihm „reichlich verdreht“.
Bis Mai ist noch viel Zeit. Der Landtag könnte durchaus noch etwas auf die Beine stellen zu 80 Jahre Kriegsende und Befreiung. Nur leider ist da etwas in der Terminplanung schiefgegangen: Alle Fraktionen befinden sich just in der Woche auf Reisen. Die Grünen zum Beispiel reisen nach Polen. „Da haben wir am 8. Mai den ganzen Tag dem Kriegsende und dem Gedenken an den Holocaust gewidmet“, sagt Röpcke.
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