Debatte um Google Street View: Muss die ganze Welt sichtbar sein?
Die menschliche Faszination für Panoramabilder ist älter als der erste Computer. Die Debatte um den Google-Dienst Street View braucht längere Belichtungszeiten.
Der Widerstand gegen den Google-Dienst Street View, der systematisch die Welt fotografisch erfasst, artikuliert sich längst nicht mehr allein in Expertenrunden über Datenschutz. Kürzlich wurden in Oldenburg an einem geparkten Street-View-Auto die Kabel der neun Kameras durchgetrennt, und in Österreich bewaffnete sich ein Rentner mit einer Spitzhacke, um sich gegen die Aufnahme seines Gartens zu wehren.
Google hat einen schweren Stand in Deutschland. Das Unternehmen aus Mountain View, Kalifornien, begann 2007, systematisch amerikanische Städte zu fotografieren. Mittlerweile sind die 360-Grad-Panoramaaufnahmen für Nordamerika, Kanada, Australien, Japan, Mexiko-Stadt und weite Teile Europas verfügbar. Beim Sammeln der Daten geht Google nach derselben Methode vor wie bereits bei der Digitalisierung von Büchern: erst mal machen und sich dann um die Rechtslage kümmern.
Juristisch sieht es so aus, dass Google weiterhin fotografieren und die Bilder unter bestimmten Voraussetzungen online stellen darf. Die Klage der Besitzerin eines Kölner Wohnhauses gegen die Veröffentlichung der Bilder ihres Objekts wurde vom Landgericht Köln mit der Begründung abgelehnt, man könne auf dem virtuellen Streifzug durch die Straße weniger Informationen einholen als während eines Spaziergangs durch die Gegend.
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Pablo Abend, geb. 1981, lebt in Köln und schreibt seine Dissertation über Geobrowser.
Auch gegen den Vorwurf des Verstoßes gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht ist das Unternehmen theoretisch abgesichert. Durch Unkenntlichmachung abgebildeter Personen mittels Verpixelung der Gesichter erfüllt es die Kriterien des Gesetzes - fast. Doch ist eine Person nur an ihrem Gesicht identifizierbar? Sind nicht auch der Kontext, die Kleidung, Accessoires oder auch das Auto, in dem man sitzt, kennzeichnend? Diese Lücke übergeht Google souverän.
Für die um ihre Privatsphäre besonders besorgten Deutschen hat der Konzern eine Erklärung ins Netz gestellt. Darin ist eine ziemlich schwache Argumentation für die uneingeschränkte Verbreitung der Fotos zu finden: "Straßenbilder mit Passanten werden zulässigerweise angefertigt und veröffentlicht, seitdem es die Fotografie gibt, und sind heute allgegenwärtig in Zeitungen, dem Fernsehen und dem Internet." Jedem, der professionell Fotos macht und veröffentlicht, dürfte jedoch klar sein, was erlaubt ist und unter welchen Voraussetzungen er juristisch belangt werden kann.
In all den Debatten um Datenschutz wird gern vergessen, dass städtische Panoramadarstellungen nichts Neues sind und sich in steter medialer Transformation befinden. Und die Faszination der Menschen für die mediale Abbildung der Welt als Umschau oder Allschau, was das Wort Panorama übersetzt bedeutet, ist tief verwurzelt. Nach der Installation des ersten gemalten Panoramas in einem eigens dafür errichteten Gebäude 1793 in London avancierte diese Art der Inszenierung des natürlichen Blicks gegen Eintrittsgeld schnell zum ersten Massenmedium.
Nach der Erfindung der Fotografie und des Films wurden die mittlerweile vom Publikum nicht mehr stark frequentierten, gemalten Panoramen Anfang des 19. Jahrhunderts in Panoramen umgewandelt, in denen Fotografien und Filme gezeigt wurden. Die sehr kostenaufwendigen Panoramabauten wurden so kurzfristig wieder attraktiv gemacht. Längerfristig konnten fotografische und kinematografische Panoramen mit projizierten Bildern jedoch nicht an den Erfolg ihrer gemalten Vorläufer anknüpfen.
Der Film verdrängte Anfang des 20. Jahrhunderts die Panoramabauten als massenmediale Attraktion, wobei in Panoramafilmen diese ältere Form der Umgebungsdarstellung weiter existierte. Nachdem die Kamera Anfang des 20. Jahrhunderts in Bewegung versetzt worden war, entstand eine Reihe von Panoramafilmen; Urheber waren die Brüder Lumière, Edison und die American Mutoscope and Biograph Company. Interessant ist auch die Betrachtung der Produktionsweise der Filme.
Wie im Falle von Street View wurde die Kamera an einem Vehikel angebracht - an einem Pferdegespann, einem Automobil oder gar einem Boot. Filme, die ausschließlich aus handlungsfreien, panoramatischen Darstellungen - meist urbaner Räume - bestanden, traten schon bald in den Hintergrund, blieben als Panoramaaufnahmen jedoch ein wiederkehrendes Motiv in Spielfilmen. In dieser Zeit kam auch der Schwenk auf, englisch Pan - er wurde ein fester Bestandteil der Kameratechnik.
Mit dem Aufkommen des Internets erlebte das Panorama eine Renaissance, und Panoramaaufnahmen sind häufig auf touristischen Webangeboten und im Bereich der Produktwerbung zu finden. Auch im Bereich der Datenvisualisierung wird mit Rundpanoramen experimentiert, wie im Zentrum für Kunst- und Medientechnologie in Karlsruhe. Der dortige Panoramascreen wurde im Rahmen der Forschung an immersiven Umgebungen entwickelt und bietet die Möglichkeit für künstlerische und wissenschaftliche 360-Grad-Projektionen.
Google versucht in seiner Erklärung seine neue Technologie mit einem alten Ausdrucksmittel zu vergleichen, wenn es sich auf die Fotografie beruft. Diese Referenz ist so lange stimmig, wie es darum geht, dass in Panoramen immer auch Menschen abgebildet wurden. Es muss jedoch ein entscheidender Unterschied zwischen dem Panorama als Kunstwerk und Street View gemacht werden.
Während es sich bei Ersterem um ein einzelnes Werk handelt, das einem relativ kleinen, zahlenden Publikum meist nur für kurze Zeit zugänglich war, hat es sich Google zur Aufgabe gemacht, aus der ganzen Welt ein Panorama zu machen, das rund um die Uhr kostenlos und für jeden, der über einen Internetzugang verfügt, abrufbar ist. Daher ist es wohl kaum verwunderlich, dass aus der Zeit der frühen Panoramafilme keine Proteste wie jetzt gegen Google Street View bekannt sind.
Bei aller Dringlichkeit muss man zu dem Schluss kommen, dass die Art und Weise, in der die Diskussion öffentlich geführt wird, häufig jeder fachlichen Grundlage entbehrt. Allzu oft geraten völlig unterschiedliche Themenkomplexe wie die Wirkung von sozialen Netzwerken, die Veränderung der Kommunikation durch Nachrichtendienste wie Twitter und eben die Bedrohung der Privatsphäre durch Google Street View durcheinander.
So diskutieren beispielsweise in einer Sendung von Maybrit Illner die Bundesministerin für Verbraucherschutz Ilse Aigner (CSU), FAZ-Feuilletonchef Frank Schirrmacher, Kay Oberbeck von Google und Constanze Kurz vom Chaos Computerclub unter dem wirren Titel "Ausgespäht und abgezockt im Internet?" gänzlich undifferenziert über Facebook, Kinderpornos und Street View. In der munteren Gesprächsrunde wurde außer Acht gelassen, dass Inhalte, die bewusst ins Netz gestellt werden, und Aufnahmen, denen man sich nicht entziehen kann, nicht vergleichbar sind.
Anstatt immer wieder Schreckenszenarien à la Orwell und Big Brother zu entwerfen, wäre es dienlicher, wenn PolitikerInnen, BürgerInnen und WissenschaftlerInnen Lösungen für die konkreten Probleme, die aus neuen Technologien resultieren, erarbeiten würden. Da Software immer weiter in unser tägliches Leben eingreift, ist es dringend notwendig, dass die Politik mit IT-Experten wie denen vom Chaos Computer Clubs zusammenarbeitet. Doch diese Zusammenarbeit ist für die Parteien gefährlich, müssten sie sich doch den unangenehmen Vorwürfen bezüglich des staatlichen Umgangs mit den Daten der Bürger stellen.
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