Debatte über „Islamo-Gauchismo“ in Frankreich: Der Feind steht in der Uni
Frankreichs Hochschulministerin Frédérique Vidal wittert eine „giftige“ Allianz von Linken, Akademikern und Islamisten. La Grande Nation ist empört.
Ein Gespenst geht um in Frankreich, in den derzeit wegen der Coronapandemie so stillen Korridoren der Universitäten. „Islamo-Gauchisme“ ist sein Name. Mit diesem zum Slogan verkürzten Wortpaar ist eine Allianz zwischen Islam, Islamisten und den „Gauchistes“ gemeint, als die in Frankreich Linksextremisten bezeichnet werden. Die französische Hochschulministerin Frédérique Vidal hatte vor der Gefahr einer solchen unheiligen Union gewarnt und hatte Linke und Wissenschaftler:innen als „nützliche Idioten der Dschihadisten“ bezeichnet und damit eine Riesendebatte ausgelöst.
Begonnen hatte alles mit einem Auftritt von Vidal Mitte Februar in einer TV-Talkshow. Diskutiert wurde, inwiefern religiöse Eiferer die Laizität bedrohen. Der Gesprächsleiter Jean-Pierre Elkabbach (83) äußerte am Ende der Plauderei den Verdacht, in den Unis gebe es so etwas wie „eine Allianz zwischen Mao Tse-tung und dem Ajatollah Khomeini“. „Sie haben völlig recht“, meinte die Ministerin, die ankündigte, sie wünsche eine „Untersuchung“ über den „verheerenden“ Einfluss des „Islamo-Gauchisme“ in der Forschung und in den Universitäten. Das Nationale Forschungszentrum (CNRS) müsse „die Gesamtheit der Forschungsarbeiten überprüfen, damit man unterscheiden kann, was akademische Forschung ist und was in den Bereich des Aktivismus und der Gesinnung gehört“.
Vidal, die vor ihrer überraschenden Berufung in die Regierung Biochemieprofessorin und Präsidentin der Universität Nizza Sophia-Antipolis war, begründete ihre Überprüfungsforderung so: „Gewisse Akademiker – sicherlich eine Minderheit – benutzen ihren Titel und ihre Aura, um radikale und militante Ideen des Islamo-Gauchisme zu fördern, indem sie alles so betrachten, wie es ihrem Wunsch entspricht: um zu spalten, zu fragmentieren und zur Benennung von Feinden.“
Die Reaktionen auf ihre Tirade ließen nicht lange auf sich warten. Zuerst kamen sie von den attackierten Linken: Jean-Luc Mélenchon von der Bewegung La France insoumise (Unbeugsames Frankreich) sprach von einer „Gesinnungspolizei“ und einer Bedrohung der Meinungs- und Forschungsfreiheit an den Universitäten. Ungewöhnlich scharf im Tonfall war auch die Absage der Konferenz der Hochschulvorsitzenden. In ihrem Kommuniqué warf sie der Ministerin vor, mit ihrer Polemik für große Konfusion zu sorgen. „Islamo-Gauchisme ist kein Konzept, sondern ein Pseudobegriff, für den man vergeblich auch nur den Ansatz einer wissenschaftlichen Definition sucht.“ Die Ministerin verwende „populäre Schlagworte der extremen Rechten“, deren hinlänglich bekannte Absicht es sei, die intellektuelle Elite und die Universitäten zu diskreditieren. Politische Interessen der Regierung könnten eine solche Wortwahl nicht rechtfertigen: „Die politische Debatte ist gewiss keine wissenschaftliche Debatte. Das heißt aber nicht, dass man deswegen gleich Unsinn erzählt.“
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Die Debatte aber lief heißer und heißer. Vidal selber gab zu bedenken, an der Universität Paris (Sorbonne) sei eine „Black-Face“-Aufführung des Stücks „Die Schutzflehenden“ von Aischylos von Protestierenden verhindert worden. Abgeordnete der konservativen Partei Les Républicains verlangten in der Nationalversammlung einen Untersuchungsausschuss „zur Kulturverhinderung“ durch „Islamo-Gauchistes“. Konservative Tageszeitungen wie Le Figaro oder offen reaktionäre Blätter wie Valeurs actuelles schlugen sich auf die Seite von Vidal und erinnerten an die trotzkistische Nouveau Parti anticapitaliste (NPA), die 2010 bei Regionalwahlen eine Kandidatin mit Schleier auf ihrer Liste hatte oder an Linke, die an einer Kundgebung gegen die „Islamophobie“ teilgenommen hätten.
Aber auch linke, feministische Publizistinnen wie die Chefredakteurin des Magazins Marianne, Natacha Polony, oder Caroline Fourest kritisierten Vidal zwar dafür, die Universität politisch kontrollieren zu wollen, gaben ihr aber in der inhaltlichen Bewertung des Phänomens recht. „Islamo-Gauchisme ist eine Realität, für die wir einen anderen Begriff finden können. Aber er bleibt eine Realität“, sagte auch Philippe Val, ehemaliger Redakteur von Charlie Hebdo. Auch in der linksliberalen Tageszeitung Libération warnte ein Kollektiv von Akademiker:innen, dass gewisse sozialwissenschaftliche Forschungen zu Rassen- und Genderfragen eine Tendenz hätten, dogmatisch zu werden und keine Widerrede zuzulassen. Dem zu begegnen, sei aber Sache der universitären Gemeinschaft selber – und nicht der Ministerin.
Präsident Emmanuel Macron hatte schon vor längerer Zeit die Befürchtung geäußert, dass in der Folge der „Black Lives Matter“-Demonstrationen und der Proteste gegen rassistische Polizeigewalt in Frankreich postkoloniale oder dekoloniale Studien samt der sogenannten „Cancel Culture“ aus den USA „importiert“ würden.
In einer Grundsatzrede zum politischen Islamismus in Les Mureaux bei Paris warnte Macron, es gebe heute Kinder und Enkelkinder aus der Immigration, die ihre Identität im Licht postkolonialer und dekolonialer Theorien begreifen wollten. „Sie sind damit Opfer einer methodisch gelegten Falle seitens gewisser Leute, die mit solchen Theorien den Hass auf die Republik und sich selbst, aber damit auch den Separatismus nähren.“
Gegen diesen „Separatismus“ hatte die Regierung erst kürzlich eine Gesetzesvorlage ins Parlament eingebracht.
Chloé Morin von der Jean-Jaurès-Stiftung vermutet, dass Macron und seine Regierung damit der von Umfragen bestätigten Verschiebung ihrer Wählerbasis nach rechts Rechnung tragen wollen. „Nichts ist effizienter, um den Gegner zu diskreditieren als das Schreckgespenst des „Islamo-Gauchisme“, erklärte die Politologin der Zeitung New York Times, die sich ansonsten wie andere nichtfranzösische Medien über die Heftigkeit der französischen Debatte nur wundern konnte.
Der von Beginn an anklagend gemeinte Begriff „Islamo-Gauchisme“ stammt von dem Soziologen Pierre-André Taguieff, der ihn vor 20 Jahren zum ersten Mal benutzte. Er sah sich während der von der Ministerin ausgelösten Debatte genötigt, sich von der heutigen Verwendung des Begriffs zu distanzieren. Er habe damals einen Teil der antiimperialistischen und antirassistischen Bewegung ansprechen wollen, in der sich neben weiten Teilen der Linken auch politisch aktive Muslime und radikale Islamisten in ihrer antizionistischen Kritik an Israel in vielen Punkten einig waren. Aus solchen punktuellen Begegnungen eine große Bewegung zu konstruieren, ist nach Ansicht des Soziologen Samuel Hayat ein typisches Beispiel für ein „Amalgam“.
„Gerade weil der Begriff ständig an Präzision einbüßt, gewinnt er an Effizienz. Seine Wirksamkeit beruht auf der Zweideutigkeit. Das erlaubt es reaktionären Kreisen, Islamspezialisten, Rassismusforscher:innen und engagierte Intellektuelle mit aktivistischen Vereinigungen, die gegen Islamophobie kämpfen, in einen Topf zu werfen und eine vermeintliche Nähe zu dschihadistischen Gruppen und den mörderischen Attentaten zu suggerieren, wie jenem von Oktober 2020, als ein tschetschenischer Terrorist den Lehrer Samuel Paty ermordete.“
„Das ist alles andere als harmlos“, meint Hayat. Etwas Ähnliches habe es in der Geschichte schon mit dem Schimpfwort „jüdisch-bolschewistisch“ gegeben. Dieser im zaristischen Russland verwendete Kampfbegriff habe es in den 1920er und 1930er Jahren ermöglicht, Antisemiten und Antikommunisten mit einem gemeinsamen Feindbild zu vereinen.
Die ganze Debatte jedenfalls lief so aus dem Ruder, dass sich inzwischen mehrere Minister öffentlich von ihrer Kollegin Vidal distanzierten. Diese bedauerte schließlich, die Kontroverse ausgelöst zu haben. Ihre Äußerung nahm sie aber nicht zurück.
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