Debatte Verfassungsrecht: Karlsruhe ist keine Opposition
Das Bundesverfassungsgericht trägt die Europapolitik der Bundesregierung konstruktiv mit – trotz einer falschen Ausgangsposition.
W ar es ein Affront oder ein Freundschaftsdienst? Das Bundesverfassungsgericht erklärte in dieser Woche, dass es die Klagen gegen den Euro-Rettungsschirm (ESM) und den Fiskalpakt (Schuldenbremsen für alle) in einem erweiterten Eilverfahren prüfen wird.
Erst in zwei bis drei Monaten erfährt der Bundespräsident, ob er die umstrittenen Verträge unterzeichnen darf oder ob er auf ein Urteil in der Hauptsache warten muss.
Auf den ersten Blick wirkt es wie ein Affront. Denn die Bundesregierung will jede Unsicherheit über Deutschlands Beteiligung an der Eurorettung vermeiden. Nicht nur im eigenen außenpolitischen Interesse, sondern auch im Interesse hilfsbedürftiger Euroländer, deren Zinsen in der Zwischenzeit wieder ins Horrende zu wachsen drohen.
Falsche Wahrnehmung
Tatsächlich ist die gründlichere Prüfung aus Karlsruher Sicht aber ein freundliches Angebot. Schließlich hätte es bei Haftungsrisiken von bis zu 190 Milliarden Euro nahegelegen, eine einstweilige Anordnung zu erlassen, die den Fortgang der Eurorettung bis zu einem Jahr lang blockiert hätte. Denn wenn ein völkerrechtlicher Vertrag erst einmal vom Bundespräsidenten unterzeichnet wurde, dann ist Deutschland gebunden – selbst wenn das Bundesverfassungsgericht später die Zustimmung zu diesem Vertrag für verfassungswidrig erklärt.
Verglichen damit, sind zwei bis drei Monate, in denen das Gericht bereits eine grobe Prüfung der Erfolgsaussichten vornimmt, noch halbwegs erträglich. Und es war letztlich auch die Bundesregierung selbst, die dieses erweiterte Eilverfahren angeregt hatte. Insofern ist Karlsruhe hier eindeutig der Regierung entgegengekommen und nicht in den Rücken gefallen.
Dass trotzdem manche Karlsruhe eine Unbotmäßigkeit unterstellen, liegt an einer falschen Wahrnehmung des Gerichts, wie sie von vielen Medien (und in der Folge auch von einigen falsch informierten Politikern) vermittelt wird. Es gibt aber keinen Machtkampf zwischen Karlsruhe und Berlin. Das Bundesverfassungsgericht steht nicht in Opposition zur Europapolitik der Bundesregierung. Die verfassungsrechtliche Prüfung ist nur eine zusätzliche Ebene bei der Entscheidungsfindung, wenn es um wichtige Projekte geht: Zuerst entscheidet der Bundestag, dann der Bundesrat, und am Ende prüft das Bundesverfassungsgericht die verfassungsrechtlichen Zweifel.
Allerdings ist das Verfassungsgericht meist die letzte Hoffnung von Gegnern der bestehenden Europapolitik. Denn wenn es eine ganz große Koalition gibt, bei der CDU/CSU, FDP, SPD und Grüne zusammenarbeiten, dann hat allenfalls noch der Gang nach Karlsruhe vage Erfolgsaussichten. Immerhin folgt die Karlsruher Entscheidung einer anderen Rationalität. Hier geht es um Verfassungsgrenzen, die zwar nicht ausdrücklich im Grundgesetz stehen, aber von den Richtern in langjähriger Rechtsprechung entwickelt wurden.
Doch hat sich Karlsruhe letztlich stets konstruktiv verhalten und in den vergangenen zwei Jahrzehnten alle größeren politischen EU-Projekte abgesegnet: von der Währungsunion über den Lissabonner Vertrag und die vertiefte EU-Zusammenarbeit bis zum vorläufigen Euro-Rettungsschirm EFSF.
Kein Machtkampf
Und wer in der Verhandlung am Dienstag in Karlsruhe gut zugehört hat, konnte heraushören, dass auch die Klagen gegen den ESM-Vertrag und den Fiskalpakt voraussichtlich abgewiesen werden. Das ist nun sicherlich kein Machtkampf, sondern eher eine interessante Arbeitsteilung der Verfassungsorgane.
Neben dieser operativen Loyalität hat das Gericht aber strategisch einen extremen Ausgangspunkt gewählt, der stetig für Irritationen und Turbulenzen sorgt. Die Verfassungsrichter gehen nämlich seit ihrem Urteil zum Lissabon-Vertrag 2009 davon aus, dass das Grundgesetz einen Beitritt zu einem europäischen Bundesstaat verbietet und dass die deutsche Eigenstaatlichkeit auch durch eine Verfassungsänderung nicht aufgegeben werden dürfte.
Das war und ist eine Unverschämtheit gegenüber allen überzeugten Europäern. Wer sich für die Vereinigten Staaten von Europa einsetzt, wird hier verfassungsrechtlich mit Leuten auf eine Stufe gestellt, die die Demokratie abschaffen und eine Diktatur einführen wollen.
Europa per Volksentscheid
Juristisch war dies keineswegs zwingend. Im Gegenteil. Das Grundgesetz gibt der deutschen Politik den Auftrag „zur Verwirklichung eines vereinten Europas“. Eine ausdrückliche Integrationsgrenze ist im Grundgesetz an keiner Stelle enthalten. Sie ist eine Erfindung der Karlsruher Richter, die dafür in der juristischen Fachwelt und der Politik zu Recht viel verbale Prügel eingesteckt haben.
Diese verhängnisvolle Karlsruher Rechtsansicht war nun aber leider kein punktueller Ausrutscher, der im Alltagsgeschäft keine Rolle spielt. Vielmehr prägt der vermeintliche Gegensatz „Grundgesetz oder europäischer Bundesstaat“ die öffentliche Debatte. Kläger gegen die Eurorettung sprechen von einem Staatsstreich und vom Ausverkauf des Grundgesetzes. Und die Verfassungsrichter können solche Zerrbilder nicht einmal als „offensichtlich unbegründet“ zurückweisen, weil sie sich sonst selbst infrage stellen würden.
Indem Karlsruhe den öffentlichen Diskurs in eine falsche Richtung lenkt, macht das Gericht auch atmosphärisch mehr kaputt, als es durch die Absegnung der konkreten EU-Projekte an Legitimation schafft.
Wenn das politische Klima nicht weiter vergiftet werden soll, muss Karlsruhe seine Lissabon-Rechtsprechung aufgeben. Stattdessen sollte es der Politik empfehlen, per Grundgesetzänderung das Verfahren für einen förmlichen Beitritt zu einem europäischen Bundesstaat zu regeln.
Dieses Verfahren könnte – und sollte! – dann durchaus auch eine Volksabstimmung vorsehen. Europa muss wieder – wie eigentlich im Grundgesetz vorgesehen – zu einem legitimen Schritt in der Verfassungsentwicklung werden. Den Weg dahin muss die Politik bestimmen, nicht das Verfassungsgericht. So ist es üblich in der Demokratie.
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