Debatte Venezuela unter Nicolás Maduro: Höchste Alarmstufe
Venezuelas größtes Problem ist das politische System. Die partizipative Demokratie von Hugo Chávez ist ein Auslaufmodell.
D as hat Präsident Nicolás Maduro gerade noch gefehlt: Präsident Obama sieht in den venezolanischen Verhältnissen eine „außerordentliche Bedrohung der nationalen Sicherheit“ der USA.
So absurd wie diese Formulierung des Weißen Hauses waren die „Notstandsmaßnahmen“, die sogleich in Caracas getroffen wurden. Maduro ließ sich vom Parlament erneut ein sogenanntes Ley habilitante genehmigen, das ihn ermächtigt, für ein halbes Jahr mithilfe von Dekreten, also ohne jegliche parlamentarische Kontrolle, zu regieren. Außerdem ließ er die Streitkräfte in Alarmbereitschaft versetzen, ordnete zweiwöchige Manöver für rund 100.000 Soldaten und Milizionäre sowie Katastrophenübungen an, in denen die kilometerlangen Straßentunnel der Hauptstadt als Schutzräume getestet werden sollen.
Mit Aktionismus versucht er seit Monaten, vom Notstand des Landes abzulenken, statt die überfälligen Reformen anzupacken, die das Debakel zwar nicht beseitigen, es aber einer Lösung näher bringen würden. Dazu müsste er aber anerkennen, dass das Projekt der bolivarischen Revolution von Hugo Chávez ein Auslaufmodell und die Ursache der Misere ist.
Doch Chávez ist die einzige Identität stiftende Klammer, die den Chavismus zusammenhält. Er verlieh Maduro auch seine einzige Legitimität als Präsident. Als Regierungschef hat Maduro längst jegliche Glaubwürdigkeit verloren.
Irrationale Verstaatlichungen
Es war jedoch Hugo Chávez, der Venezuela auf den falschen Kurs zwang. Er hat den staatlichen Ölkonzern PDVSA ausgelaugt, hat ihn in eine Parallelregierung verwandelt, die mit ihren Milliardengewinnen Programme zur Sicherung der Lebensmittelversorgung, zur Ankurbelung der Landwirtschaft, für das Gesundheitswesen und den Wohnungsbau finanzieren und organisieren musste. Damit ist jeder Ölkonzern überfordert. PDVSA wurden außerdem die Mittel für Investitionen in die überalterten Anlagen und zur Erforschung neuer Rohstoffvorkommen gekürzt.
ist Publizist mit Arbeitsschwerpunkt Lateinamerika. Seit den 1970er Jahren beschäftigt er sich in Rundfunkfeatures und Reportagen mit der Entwicklung des Kontinents und war in letzter Zeit mehrfach in Venezuela.
Das Ergebnis: Venezuela leidet nicht nur unter dem mehr als halbierten Ölpreis, sondern auch unter einem Rückgang der Ölförderung um mindestens ein Viertel. Im ölreichsten Land des Kontinents muss zeitweise das Benzin rationiert werden. Die Öllieferungen zum Vorzugspreis in die Karibik und sogar ins Bruderland Kuba wurden halbiert.
Auf dem Weg zum „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ führte Chávez außerdem eine völlig irrationale Verstaatlichungspolitik durch, die ganze Industriezweige lahmlegte und auch die Agrarproduktion erheblich beeinträchtigte. Deshalb traten bereits während seiner Regierungszeit immer wieder Probleme bei der Lebensmittelversorgung auf. Zahlreiche Grundnahrungsmittel mussten importiert werden, ganze Schiffsladungen verkamen mitunter wegen Misswirtschaft in den Häfen.
Um der Preistreiberei vorzubeugen, verordnete die Regierung feste Preise für einheimische Erzeugnisse. Sie waren jedoch oft so niedrig, dass viele Unternehmen die Produktion einstellten, um Verluste zu vermeiden. Andererseits heizte das absurde System von vier verschiedenen Wechselkursen die Spekulation erst richtig an.
Gewaltenteilung aufgehoben
Für Hugo Chávez bestand die bolivarische Revolution vor allem aus einer „partizipativen und protagonistischen Demokratie“. Der Hauptdarsteller sollte das viel beschworene Volk sein, doch der wichtigste Akteur blieb er selbst. Er hob die Gewaltenteilung weitgehend auf, machte beispielsweise die Justiz zu einem Erfüllungsgehilfen politischer Entscheidungen. Sie gilt selbst für einen Parteigänger des Chavismus wie Nicmer Evans als der korrupteste Teil des Staatsapparats. Sie ist der Hauptschuldige für die immense Rechtsunsicherheit, Straflosigkeit, Kriminalität und Gewalt, die heute in Venezuela herrschen.
Chávez’ partizipative Demokratie war limitiert auf seine Parteigänger. Oppositionellen Zeitungen sowie Radio- und Fernsehprogrammen wurde die Lizenz nicht verlängert oder sie wurden von regierungsfreundlichen Konsortien aufgekauft. Heute gibt es nur noch eine kritische Tageszeitung mit Niveau und überregionaler Printauflage (El Nacional).
Die Stärke des Chávez-Nachfolgers Maduro besteht in der Schwäche der Opposition. Sie zu kriminalisieren, was bereits Chávez unternahm, oder zu verteufeln ist sinnlos, denn ohne sie wird es für Venezuela keine Zukunft geben. Bei der Präsidentschaftswahl vor zwei Jahren wäre ihr beinahe gelungen, an die Regierung zu kommen: Sie erhielt 48 Prozent der Stimmen, und diese stammten sicher nur zum geringen Teil von der „weißen Oberschichtblase“, den „Nachkommen der Sklavenhalter“, wie treu ergebene Anhänger des Chavismus die Opposition abzuqualifizieren versuchen.
Schwäche der Opposition
Ihr ist es bisher nicht gelungen, die inneren Streitigkeiten der insgesamt 27 Parteien und Gruppierungen zu überwinden, ein überzeugendes Programm zu entwickeln oder sich auf ein geeignetes Führungspersonal zu verständigen. Gegenwärtig versucht sie ihre Wählerbasis zu verbreitern und hat in Jesús Torrealba einen neuen Generalsekretär des Dachverbands MUD gefunden, der aus einfachen Verhältnissen kommt. Mit ihrem Kurs, Maduro durch Druck von der Straße zum Rücktritt zu zwingen, ist sie gescheitert: gegen den staatlichen Machtapparat kommt sie nicht an. Es bleibt nur der Weg über die im Juni bevorstehenden Regionalwahlen, und der dürfte steinig werden, denn die Regierung wird nichts unversucht lassen, sie zu demontieren.
Dabei geht es längst nicht mehr um eine Entscheidung zwischen Sozialismus und Kapitalismus, sondern um die Funktionsfähigkeit des Landes. Andere Regierungen haben längst bewiesen, wie progressive Politik und privatwirtschaftliche Strukturen erfolgreich zusammenwirken können: Evo Morales in Bolivien und Rafael Correa in Ecuador. Für Venezuela gilt höchster Alarmzustand, aber nicht, weil der altbekannte Feind ante portas steht, sondern weil Chaos droht, wenn der seit Jahren herrschende Irrationalismus nicht endlich überwunden wird.
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