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Debatte Umgang mit FlüchtlingenBürgerliche Reinigungsfantasien

Stefan Reinecke
Kommentar von Stefan Reinecke

Nach der Gewalt im Görlitzer Park in Berlin fordern viele ein rabiates Durchgreifen. Besser wäre: Flüchtlingen reguläre Arbeit zu ermöglichen und Gras zu legalisieren.

„Dem Erdboden gleichmachen“: Polizisten im Görlitzer Park. Bild: dpa

D er Görlitzer Park in Berlin-Kreuzberg ist ein soziales Kunstwerk. Alte türkische Migrantinnen passieren eng umschlungene schwule Pärchen. Jogger und Alkoholiker, spanische Touristinnen in Edelklamotten und Obdachlose, die Papierkörbe durchstöbern –all das existiert auf engem urbanen Raum weitgehend unfallfrei nebeneinander. Denn es gilt ein ungeschriebenes Gesetz: Sieh nicht hin! Auf dem Eintrittsticket, das scheinbar alle gelöst haben, steht: Ignoriere gerade das, was dich am meisten stört. Der Görlitzer Park ist eine Metapher für ziviles Zusammenleben, für die erstaunliche Fähigkeit, das andere zu ertragen. Oder muss man sagen – war?

Seit eine wachsende Zahl von Kleindealern, Flüchtlingen aus Afrika, den Park dominieren, wächst die Gewalt. Zwischen Anwohnern und Dealern kam es zu Messerstecherei und Brandstiftung. Das ist mehr als normale Kriminalität. Wenn ein Kreislauf von Selbstjustiz, Gewalt und Gegengewalt entsteht, zerbricht der unsichtbare Vertrag zivilen Zusammenlebens.

Im Görlitzer Park sind, wie unter einem Mikroskop, Widersprüche zu erkennen, die es, weniger konzentriert, auch in anderen Großstädten gibt. In den hippen, migrantisch geprägten Innenstadt-Bezirken der Metropolen wächst die Kluft zwischen dem sozialen Oben und Unten. Gerade wo die Partydichte höher ist, wo es lässiger als in den Vororten zugeht, schießen Mieten und Wohnungspreise nach oben. Ärmere werden verdrängt. Und ganz unten kommen Armutsflüchtlinge, oft Roma und Afrikaner, nach.

Besser verdienenden Ex-Alternativen geht es gehörig auf die Nerven, dass Müll auf der Straße liegt und das Alltagsverhalten roher wird. Angesichts der Dealerei brennen manchen Neobürgerlichen die Sicherungen durch. Den Park, so eine Anwohnerin, müsse man „dem Erdboden gleich machen“. Das klingt wie Sarkozy, der die Gewalt in der Pariser Banlieu mit einem Kärcher ausrotten wollte.

Legalize it!

Aber Reinigungsfantasien nutzen nichts. Im Gegenteil: Drogengesetze zu verschärfen, damit die entnervte Polizei Kleindealer nicht sofort wieder laufen lassen muss, wäre wie Feuer mit Benzin zu löschen. Es ist vielmehr nötig, Drogen und Kriminalität zu entzerren – also Marihuana zu erlauben.

Das ist kein Zaubermittel, auch von Coffeeshops dominierte Straßenzeilen können ziemlich trostlos sein. Aber es hilft, die Eskalationsroutinen zu bremsen. Das zeigt die Legalisierung von weichen Drogen in einigen US-Bundesstaaten, die offenbar den extrem gewalttätigen Drogenkartellen in Mexiko schadet.

Manche träumen in den gentrifizierten Bezirken auch von der Null-Toleranz-Politik, mit der die Polizei in den 90er Jahren New York rabiat befriedete. Allerdings war die Lage in New York viel dramatischer: Es gab damals 2.000 Morde im Jahr. Und: Was in den Lobeshymnen auf die Null-Toleranz-Politik in New York gern ausgeblendet wird, ist: Die Kriminalität sank in Manhattan und explodierte an den Rändern. Was nutzt es, das Schaufenster hübsch aufzuräumen, wenn dafür das Lager verwüstet wird?

Lieber jobben als dealen

Das Wichtigste, um Druck aus dem Kessel zu lassen, wäre Flüchtlingen schneller zu ermöglichen, legal zu arbeiten. Viele würden lieber jobben als dealen. Das Arbeitsverbot für Asylbewerber ist zwar gerade gelockert worden. Allerdings gibt es in der Praxis noch immer ein dichtes Gestrüpp von bürokratischen Fallstricke, die verhindern, was die Große Koalition unbedingt verhindern will. Dass Flüchtlinge, die hier sind, bleiben. Und dass noch mehr kommen.

Die meisten Kreuzberger reagieren besonnen. Klug wäre, wie eine Bürgerinitiative fordert, Parkwächter zu engagieren. Nur linksextreme Holzköpfe wittern da Rassismus. Denn das hat nichts mit Bürgerwehr zu tun, sondern mit Moderatorenteams, die Eskalationen erkennen. Falsch hingegen ist es, achselzuckend den Dingen ihren Lauf lassen. Oder, schlimmer, auf Tabula rasa Lösungen zu setzen.

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Stefan Reinecke
Korrespondent Parlamentsbüro
Stefan Reinecke arbeitet im Parlamentsbüro der taz mit den Schwerpunkten SPD und Linkspartei.
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17 Kommentare

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  • Wie das gehen soll? Das werden die Menschen selbst für sich finden im Dialog mit den Gegebenheiten des neuen kooperativen Rahmens.

     

    Kleinteilig: Lokal agieren, indem man sich in sehr überschaubaren Gruppen zusammen tut und GEMEINSAM die konkreten Lebensprobleme angeht. Dennoch global denken, indem man sich mit anderen lokalen Gruppen austauscht.

     

    Gewaltfrei: Gewalt ist ein Zeichen egoistischen Denkens. Kooperation schließt Gewalt aus. Lieber im Konfliktfall verzichten.

     

    Bescheidenheit: Systematisches Down-Sizen. Nur das wirklich menschlich Relevante brauchen wir. Und nur dieses (unabhängig von ALLEM Konsum) dürfen wir der Natur entnehmen.

     

    Offenheit: Niemand wird ausgeschlossen. Kein Dogmatismus. Die Umstände der konkreten nahen Realität entscheiden über die Form des Agierens.

     

    Das steht schon in der Apostelgeschichte: Verschenkt alles an die Armen und tut euch zusammen. Das bedeutet: das Ziel ist nicht materieller "Wohlstand", sondern menschlicher Lebenssinn, den man nur in der permanenten und konkreten Bewältigung der menschlichen Lebensnot in der Natur und mit den Mitmenschen finden kann.

  • Besser wäre es, GESETZE einhalten.

  • Görlitzer Park: Ein urbanes Idyll, wo Besserverdiener und Obdachlose in herrlicher Symbiose leben und plötzlich kommen Schwarze und stören den Frieden - es sind doch immer dieselben!

     

    Lieber Herr Reinecke: Ihr Idyll ist in Wirklichkeit ein Display sozialer Mißstände und der Druck im Kessel steigt. Wenn sich jetzt irgendwo ein Überdruckventil hässlich zischend öffnet, ist nicht das Ventil die Ursache. Und deshalb sind jene "linksextremen Holzköpfe" eben doch nicht ganz so verholzt.

     

    Parkwächter? Privatleute also. Nach den ernüchternden Erfahrungen mit European Homecare sollte man da ganz, ganz, ganz vorsichtig sein, es sei denn, man beabsichtige eine Eskalation.

  • "Ignoriere gerade das, was dich am meisten stört. Der Görlitzer Park ist eine Metapher für ziviles Zusammenleben, für die erstaunliche Fähigkeit, das andere zu ertragen."

     

    Was ist ZIVILES Zusammenleben? Es ist KEIN ZUSAMMEN-Leben. Schon bei den Römern war die societas CIVILIS von der Sphäre der eigentlich MENSCHLICHEN Beziehungen abgetrennt. Der zivile, BÜRGERLICHE Mensch ist ein Gegen-Mensch. Er ist ein Konkurrent in der einzigen Gemeinsamkeit des Marktes. DARIN, in diesem Raum egoistischen Strebens, wo es egal ist, WAS der andere ist, solange er nicht als Konkurrent erscheint, findet man diese "erstaunliche Fähigkeit, das andere zu ertragen".

     

    Die Schwulen sind den Türkinnen einfach egal und umgekehrt, weil beide bewusst NICHTS gemeinsam haben, weil jeder ISOLIERT in seiner neutralen Nische lebt, die weder etwas mit dem obligaten eigenen Vorteilsstreben noch mit der jeweiligen konkreten Lebenswelt NOCH einigermaßen intakter menschlicher Beziehungen zu tun hat.

     

    Der Görlitzer Park ist KEINE Metapher eines Zusammenlebens, sondern für die Entfremdung in der bürgerlichen Welt, die die Menschen entzweit oder mindestens zur gegenseitigen Gleichgültigkeit prägt. Flüchtlinge legal arbeiten zu lassen ändert DARAN nichts. Sie bleiben Fremde, so wie auch die Deutschen oder die schon "integrierten" Ausländer Fremde bleiben, auch gegenüber "ihresgleichen". In einer sich desintegrierenden Gesellschaft kann es keine Integration geben.

     

    Und das "Gras"? Die Legalisierung einer Droge hat dieselbe Funktion wie Religion. Hat das Volk sein Opium, verdrängt es seine Not, kann nichts gegen sie unternehmen.

     

    Statt legale Arbeit für Flüchtlinge oder legalisierte Drogen einzufordern, sollten WIR ALLE uns zusammentun und kleinteilig, gewaltfrei, bescheiden und offen unser Schicksal buchstäblich wieder in die eigenen Hände nehmen. Dann werden Schwule und Türken sich NICHT BLOß ERTRAGEN, sondern ZUSAMMEN arbeiten und leben.

    • 8G
      849 (Profil gelöscht)
      @Harald Oswin Haas:

      Sehr schön analysiert! Nur frage ich mich, wie das gehen soll...?

  • die Freigabe von Haschsch bringt in dem Zusammenhang überhaupt nichts, den die wenigsten Dealer handeln "nur" mit Haschisch, sondern die haben einen ganzen Warenkorb mit unterschiedlichen Btm im Angebot. Über die Notwendigkeit der Strafbarkeit mit Heroin, Kokain, Crystal & Co sollte auch bei den größten Sozialromantikern Konsens bestehen.

    • @Thomas_Putzo Tvaellen:

      "Sozialromantiker"?

       

      Sind das Apologeten des freien Marktes?

       

      Komische Sinnveränderungen der Worte heutzutage.

  • Noch eine Nachspeis zur Argumentführung im Artikel: www.leap.cc

  • Dass sich Asylbewerber in Zukunft nach drei Monaten frei in ganz Deutschland bewegen dürfen, dass sie schneller Arbeit aufnehmen können, dass die Unterstützung in der Regel in bar und nicht mehr als Sachleistung ausgezahlt wird, all diese Zugeständnisse der Bundesregierung haben Kretschmann zum "Ja" bewogen. Wurde das in Berlin noch nicht umgesetzt?

    • @Arcy Shtoink:

      Meinen Sie, die laufen dann weg aus dem Görlitzer Park?

      Und arbeiten tun die meisten dort doch auch schon.

      Um das noch mal zu erklären: Wenn man mehr Menschen erlaubt, hier zu arbeiten, vergrößert sich das Angebot an Arbeitskräften, nicht das an Arbeitsplätzen.

    • @Arcy Shtoink:

      Meines Wissens nicht. Ist auch keineswegs sicher, daß es wirklich umgesetzt wird. Ging ja auch nur darum, die Schwabengrünen jetzt auch beim Stammtischnazi zu etablieren.

  • Jetzt werden alle auf die Probe gestellt und ein Schwarz / Weiss hilft niemanden weiter. Die Diskussion wird schon lange nicht mehr sachlich geführt und, ja, es gibt zu viele nicht angesprochene Aspekt. Vielleicht hilft dieser Artikel aus dem Guardian weiter. Ich finde ihn jedenfalls weiterführender als den Ansatz unserer Medien:

     

    Much of the challenge around the immigration debate is that views tend to be polarised, and are all too often associated with racism, explained Amina Lone, director of the Social Action and Research Foundation. Many working-class people in particular struggle with this, she added, and feel that if they do talk about immigration, they are accused of being racist. A more open and honest conversation needs to take place that allows everyone to participate.

    For John Denham MP, the conversation must start on the doorstep and acknowledge individual perceptions of immigration, even if they are not statistically accurate. “Too often people on the liberal left don’t even allow the conversation to happen – when actually, most people just want to be heard. We need to listen, acknowledge the unfairness and give people a voice. The worse thing we can do is show them the data and tell them they shouldn’t be worried.”

    Our education system has a key role to play in the creation of social trust and community spirit. More and better teaching of history, culture and non-mainstream languages will enable our people to become more culturally aware, cohesive and tolerant. Equally, longer-term strategic planning around school places, the language skills of teaching staff and integration of minorities would address challenges such as overcrowding and polarisation, all of which contribute to local tensions. The pace of immigration shows no sign of slowing down. A multicultural, multilingual society would go a long way towards ensuring Britain can maintain its position on the world stage.

    • @Andre Steudner:

      Das sind leider nur Binsen Weisheiten, natürlich muss man die Einheimischen zu mehr Toleranz bewegen, leider sind viele aber nicht lernfähig.

      • @Dieter1966:

        Bitte sehen Sie einmal in den Duden.

        Dort finden Sie diesen Begriff Toleranz

        erleutert.Erdulden ,erleiden! Sie möchten also den deutschen Menschen mehr erdulden und erleiden lassen?

        Warum?

    • @Andre Steudner:

      Herr Reinecke will die sissy spielen und kriminelle Handlungen einfach entkriminalisieren, aber das löst die Probleme nicht.

      • @Frank Mustermann:

        Ach herrjeh, die "Sissy"? Im Gegensatz zu? Warum hilft Entkriminalisierung bei Delikten ohne Schaden nicht?

        War das ein Argument? Ach nein, nur ein Befindlichkeitsrülpser.

        • D
          D.J.
          @Max Mutzke:

          "Warum hilft Entkriminalisierung bei Delikten ohne Schaden nicht?"

           

          Gut, dass ich Ihnen auch mal Recht geben kann. Eben das ist der Maßstab für die Liberalität oder Repression einer Gesellschaft. Opferfreie Sexual"strafaten" zählen ebenso dazu (weshalb z.B. Schweden kein liberaler, sondern allerhöchstens halbliberaler Staat mit vielen repressiven Elementen ist, die USA ebenso).