Debatte Schuldenkrise: Die alten Mythen leben noch
Griechen und Deutsche verbindet eine komplexe Geschichte. Doch in der aktuellen Debatte um Staatshilfen kehren überkommene Stereotype zurück.
V ielleicht gehört es zu den Erkennungsmerkmalen von Krisen, dass als Erstes die Sprache draufgeht. Derzeit vergeht kaum ein Tag, an dem nicht irgendwo zu lesen wäre: "Die Griechen müssen mehr Opfer bringen", "es wird nur unter Schmerzen besser werden", "die Griechen müssen mit ihrem Selbstmitleid aufhören."
Die Griechen? Alle? Vom Schulkind bis zum Rentner? Welche Art von Schmerzen werden hier empfohlen? Und mit wem würde man im Alltag so sprechen? Mit Partnern auf Augenhöhe? Wohl mit niemandem außer mit Schülern oder unreifen Anvertrauten, denen man nun endlich einmal wieder eine klare Entwicklungsrichtung geben muss, sofern man Anhänger einer strikten Ansagepädagogik ist.
Aus einer ökonomischen Krise wird so im Handumdrehen eine kulturelle. Spannend ist dabei, wie sehr sich quer durch alle Medien eine bestimmte Sprache ausbreitet, in der sich immer wieder die gleichen Wörter und Satzfolgen Raum verschaffen, als hätte es in den letzten zwanzig Jahren keine interkulturelle Sensibilisierung gegeben, als seien all die Seminare, Broschüren und Debatten über den Umgang mit dem "Anderen" nie existent gewesen.
Wie die berühmten englischen Kavalleriepferde, die sich beim Hornsignal in einer bestimmten Formation aufstellen, rücken bestimmte stereotype Formulierungen zuverlässig zusammen, sobald in diesen Tagen die Worte Griechenland und Krise aufeinandertreffen.
Im Fokus der Protestierer
GERNOT WOLFRAM, 35, ist Schriftsteller und Publizist. Er lebt einen Teil des Jahres mit seiner Familie in Kalamata, Griechenland. Zuletzt erschien von ihm der Roman "Das Wüstenhaus" (Deutsche Verlags-Anstalt, 2011).
"Warum lassen wir die Griechen nicht einfach pleite gehen?", prangt es in großen Lettern von der Titelseite einer Boulevardzeitung. An diesem Satz könnte man hinter jedes Wort ein Fragezeichen setzen. Wer ist dieses "wir"? Sprachlich wird, und nicht nur im Boulevard, ein Kollektivismus produziert, gegen den man sich sonst in Deutschland gern vehement stemmt. In der ökonomischen Debatte wird er plötzlich tragfähig und bleibt weitestgehend unwidersprochen.
Zählen zu diesem "wir" aber nicht auch die Griechen, die hier leben? Die vielen Urlauber, die griechische Freunde haben, zu denen sie jedes Jahr reisen? Oder die Iren, Portugiesen, Italiener, denen vielleicht bald eine ähnliche Kritik droht?
Staubsaugerartig kassiert der ökonomische Diskurs alle jahrelang gepflegten Rituale der Unterscheidung ein. Warum, so fragen sich zugleich viele Feuilletonisten entsetzt, sind außerdem gerade wir Deutschen so stark in den Fokus der griechischen Proteste geraten? Warum sind auf den Plakaten auf dem Syntagma-Platz in Athen so auffällig viele antideutsche Sprüche zu lesen?
Die Antwort ist einfach: Gerade junge Griechen fühlen sich verletzt von dieser Art von abfälliger Sprache - nicht nur gegenüber ihrer Regierung, sondern gegenüber ihrem Land und ihrer Kultur im Allgemeinen -, eben weil sie ein positives Verhältnis zum modernen Deutschland haben.
König Ottos politisches Erbe
Die historischen Bindungen zwischen Deutschland und Griechenland sind seit jeher komplex. So geht die griechische Strafrechtsordnung ursprünglich auf die bayerischen Strafrechtsordnung von 1813 zurück. Die Zeit des König Otto ist in Griechenland in unzähligen Liedern und nationalen Mythologien überliefert, die Erfahrungen der Nazizeit sind bis heute in der älteren Generation zum Teil als unverarbeitete Traumata präsent.
Deutschland ist tief mit der griechischen Geschichte verbunden, auch wenn wir zumeist das Land nur als paradiesischen Urlaubsort kennen und eben wenig darüber wissen, dass es eine unglaublich reiche Theater- und Kunstszene gibt, auch eine unterschätzte moderne griechische Literatur, die längst den Sprung in die Postmoderne hinter sich hat. Zudem ist Berlin eines der beliebtesten Reiseziele junger Griechen.
Es ist deshalb kein Wunder, dass man in Griechenland geglaubt und gehofft hatte, gerade Deutschland müsste genau jetzt in der Lage sein, diese Bindungen zu reflektieren und zwischen politisch-ökonomischen Fehlverhalten und nationaler Identität zu unterscheiden.
Stattdessen werden die alten Klischees vom "südeuropäischen Schlendrian", vom "Über-die-Verhältnisse-Leben" fröhlich wiederbelebt, obgleich jede aufmerksame Reise nach Griechenland verdeutlicht, dass gerade diese Gesellschaft tief gespalten und zerrissen ist in viele sehr unterschiedliche Lebensentwürfe.
Die diffamierende Sprache, mit der deutsche Medien nun auf die Situation im Land reagieren, verwundert zudem, da viele Deutsche Häuser in Griechenland besitzen und mehrfach im Jahr in das Land reisen - manche sogar seit über dreißig Jahren. Hier offenbart sich ein Dilemma des rein touristischen Blicks: Die griechische Kultur wurde jahrzehntelang mit Slogans wie "Lebe deinen Mythos in Griechenland" verkauft.
Ein Blick auf die Angebote von Studienreisen und anderen Tourismusunternehmen zeigt, wie sehr man sich in Griechenland selbst auf dieses falsche Bild eingelassen hat: Fast 90 Prozent aller Angebote führen zu antiken Stätten, Tempeln, Ruinen oder landschaftlich reizvollen Orten. Das moderne Athen, Thessaloniki, Kalamata, Sparta und ihre Kulturszenen? Fehlanzeige.
Siegfried statt Thor?
Vielleicht könnte es ein Resultat dieser Krise sein, dass beide Länder lernen, eine andere Form der Selbstauskunft und des Sprechen über den "Anderen" zu entwickeln. Vielleicht werden dann auch in deutschen Zeitungen nicht mehr geradezu zwanghaft antike mythologische Vergleiche herangezogen, sobald es um die Situation im Land geht - so wie in der Überschrift über einen Artikel in einer renommierten konservativen Tageszeitung, die sich mit dem Athener Sparmaßnahmen beschäftigt. Sie lautete: "Sisyphos statt Herkules". Wäre Deutschland in einer ähnlichen Situation, würde man wohl Kopfschütteln ernten, fände man eine Überschrift wie "Siegfried statt Thor" angemessen.
Wenn eines in der jetzigen Krise zu tun ist, an dem sich auch Nicht-Volkswirtschaftler beteiligen können, dann ist es wohl dies: eine andere Sprache einzufordern. Beschimpfungen sparen keinen Cent mehr ein. Wer sich beleidigt fühlt, verschließt sich. Und Verweigerungen sind immer Spiraldrehungen, die tiefer in eine Krise hineinführen.
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