Debatte Psychotherapie: Jenseits der Couch
Wir brauchen mehr PsychotherapeutInnen. Aber auch mehr Toleranz für Krisen, Abweichungen und das Nicht-Funktionieren im Leben.
D as Versprechen von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) wird nicht zu halten sein. „Die Wartezeit auf eine psychotherapeutische Akutbehandlung darf zwei Wochen nicht überschreiten“, heißt es im gerade verabschiedeten Terminservice- und Versorgungsgesetz. Eine „Akutbehandlung“ umfasst 12 Therapiestunden. „Da werden Versprechen gegeben, die nicht einzulösen sind, denn so viel freie Kapazitäten gibt es gar nicht“, rügt Stefan Baier, Psychotherapeut im hessischen Offenbach.
Baier hat einen Protestbrief mit initiiert, in dem sich mehrere Therapeutinnen über neue Terminvorgaben von den Kassenärztlichen Vereinigungen beschweren. Sein Argument: Es gibt zu wenige PsychotherapeutInnen mit Kassenzulassung, um die steigende Nachfrage nach einer Behandlung zu befriedigen. Die Wartezeiten auf eine Psychotherapie liegen im Schnitt bei fünf Monaten. Wer wann welche Psychotherapie bekommen kann und soll, ist zum Politikum geworden.
Fast 30.000 PsychotherapeutInnen behandeln in Deutschland auf Kosten der gesetzlichen Krankenkassen. Die Zahl ist limitiert. Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA), in dem sich Vertreter der Krankenkassen und Kassenärzte befinden, kündigt für Juni neue Richtwerte an, durch die sich die Zahl der Kassensitze erhöhen wird, wahrscheinlich vorrangig in den unterversorgten ländlichen Regionen.
Doch das Verteilungsproblem ist damit nicht gelöst, denn die Kapazitäten für die bezahlte Zuwendung und Behandlung bleiben knapp. Die Zahl der psychiatrischen Diagnosen bei Krankschreibungen und Frühverrentungen hingegen steigt. Für eine Behandlungsstunde zahlen die gesetzlichen Kassen rund 90 Euro Honorar.
Was heißt überhaupt „schwer krank“
PsychotherapeutInnen müssen jetzt schon 100 Minuten in der Woche als niedrigschwellige Bestellsprechstunde anbieten, die Terminservicestellen der kassenärztlichen Vereinigungen vermitteln PatientInnen dahin. Wer danach in eine 12-stündige Akutbehandlung oder eine 25-stündige Kurzzeitherapie oder sogar eine längere analytische Therapie übernommen wird, das entscheiden die BehandlerInnen allein.
Verbindliche Kriterien für eine Auswahl der PatientInnen existieren nicht, dafür aber offene Fragen: Soll man vor allem krankgeschriebene Berufstätige eher behandeln, weil deren Arbeitsunfähigkeit Kosten verursacht? Sollte man nach der Schwere der Krankheit gehen und sich mehr um chronische Psychotiker kümmern? Sie machen nur eine kleine Minderheit in den therapeutischen Praxen aus und landen oftmals in einer reinen Medikamententherapie beim Psychiater.
Aber was heißt überhaupt „schwer krank“? Selbst hoch Depressive, die schon ihren Suizid planen, können nach außen hin unauffällig und angepasst wirken. Aus den USA stammt das Vorurteil, TherapeutInnen bevorzugten Yavis-PatientInnen, also Leute, die „young, attractive, verbal, intelligent, successful“ seien. Gemieden würden hingegen Hound-PatientInnen („homely, old, unattractive, nonverbal, dumb“).
Für diese Unterstellung gibt es aber keine Belege. Nach Zahlen des Robert-Koch-Instituts erhält nur jeder Fünfte, der psychisch erkrankt, noch im gleichen Jahr eine Therapie. Mehr als die Hälfte der Behandlungen seien Kurzzeittherapien mit bis zu 25 Stunden, so Zahlen von der Bundespsychotherapeutenkammer. Die Patientengruppen sind sehr vielfältig. Darunter sind Menschen, die depressiv in einer unglücklichen Ehe hängen, aber auch Leute, die ganz alleine gegen eine angebliche Weltverschwörung kämpfen, die nur sie selbst so bedrohlich erleben.
Die Zahl der Kassensitze für Psychotherapeuten muss erhöht werden und die BehandlerInnen sollten auch auf die Heterogenität ihrer Klientel eingehen können. Das fängt mit der Ausbildung an: Bisher gibt es zwei kassenfinanzierte Richtlinienverfahren: erstens die gegenwartsbezogenen Verhaltenstherapien und zum Zweiten die psychodynamischen und analytischen Methoden, die sich stark mit der Lebensgeschichte, auch der Kindheit beschäftigen.
Perspektivisch sollten TherapeutInnen nicht nur wie bisher eines dieser Verfahren beherrschen, sondern Kenntnisse in beiden Methoden haben. Das heißt, sie können Techniken vermitteln, wie man Denk- und Verhaltensmuster verändert, aber auch Methoden, wie man Konflikte in der eigenen Lebensgeschichte und -situation aufdeckt und bewältigt. In den Ausbildungen sollte auch die Therapie von Psychotikern gelehrt werden, jenseits von einer reinen Medikamentenbehandlung. Ansätze dazu gibt es bereits.
Toleranz muss wachsen
Die Behandler sollten PatientInnen auch für andere Stütz- und Hilfssysteme im Leben öffnen, in Sport, Meditation, künstlerischer Betätigung, aber nur, wenn es passt. Die Behandlungen müssen zudem anschlussfähig sein an andere Hilfesysteme. Es ist gut, dass laut der geplanten Ausbildungsreform Psychotherapeuten künftig Ergotherapie und ambulante psychiatrische Krankenpflege verordnen dürfen.
Kassenfinanzierte PsychotherapeutInnen können aber nicht die gesellschaftlichen Defizite im Erziehungswesen, in der Arbeitswelt und in den Familien auf Dauer großflächig reparieren. Wer aufgrund von Stress im Job krank wird, braucht eine tolerantere Arbeitswelt. Wer den Partner verliert, muss durch die Trauer durch und sich andere Kontakte suchen. Manchmal bleibt der Schmerz auch bestehen. Psychotherapeuten können die Gefühle von Abschied, Verlust und Trauer nicht eliminieren.
Die Toleranz für Dysfunktionen im ganz normalen Leben darf nicht schrumpfen, indem man Abweichungen von der Norm zunehmend in Sprechzimmer verbannt und sich in den sozialen Netzwerken niemand traut, darüber zu sprechen. Im Gegenteil, die Toleranz muss wachsen im Alltag, in der Jobwelt, in Freundschaften, Netzwerken, Familien. Erst dann kann die zeitlich begrenzte Zuwendung auf Krankenschein wirklich hilfreich sein.
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