Debatte Protestbewegungen: Das ist nicht wie 68
Die Vergleiche neuer Bewegungen wie der vom Istanbuler Gezi-Park mit dem Studentenprotest sind Unsinn. Die Einteilung in Täter und Opfer auch.
Wenn man im nervösen und kurzlebigen deutschen Kaiserreich (1871–1918) einen Polizisten, Staatsanwalt, Studienrat oder Politiker fragte, woher Gefahr drohe für Ruhe und Ordnung, Staat und Religion, hieß die Antwort immer: von der revolutionären Sozialdemokratie. Diese verstand sich zwar als „revolutionäre, aber nicht Revolutionen machende Partei“ (Karl Kautsky). Diese Differenzierung nützte ihr gar nichts. Für die Eliten, für die Presse und die öffentliche Meinung blieb die SPD die Staat und Eigentum bedrohende Umsturzpartei; für die Presse der Universalschlüssel zur Erklärung von politischen „Übeln“.
Auch die internationale Protestbewegung von 1968 fungiert seit über vierzig Jahren als universale Chiffre, das heißt Pseudoerklärung. Allerdings gibt es zwischen den handlichen Passepartouts „revolutionäre Sozialdemokratie“ und „68“ wichtige Unterschiede: Zwei der SPD zugeschriebene Attentate auf den Kaiser genügten Bismarck und der deutschen Elite, um die sozialdemokratische Partei zwischen 1878 und 1890 zu verbieten, ihre Anführer zu verfolgen, einzusperren und ein penibles Zensurregime zu installieren.
Nach dem Scheitern des Sozialistengesetzes wurde die SPD 1890 zur stärksten Partei im Kaiserreich, nach der Revolution von 1918 zur Regierungspartei in der Weimarer Republik. Die Protestbewegung von 1968 dagegen wurde nirgends verboten. Und was sie bewirkt oder verändert hat, ist bis heute umstritten und kaum seriös erforscht.
Was sich momentan an Protest von unten bewegt – zwischen der Türkei, Tunesien, Syrien, Ägypten, Griechenland, Brasilien, Bulgarien, Spanien, Occupy in New York oder Demonstrationen gegen die Homo-Ehe in Paris –, immer sind die feuilletonsoziologischen und küchenpsychologischen Analysten und Interpreten mit Vergleichen dieser Ereignisse mit jenen von 68 schnell zur Hand.
„Gratisruhm“
Diese vagen Zuschreibungen entbehren jeder sachlichen, politischen und historischen Konkretion. Differenzen verschwinden: bewaffnete Aufstände, Bürgerkriege und Protestdemonstrationen fallen da gelegentlich in ein und denselben Topf und werden mit „68“ vermischt. Ob sich die oft geschmähten „Alt-68er“ über so viel journalistischen „Nach- und Gratisruhm“ freuen oder ärgern sollen, steht dahin.
ist freier Publizist und Historiker und lebt in Frankfurt am Main. 2011 erschien im Oktober Verlag der zweite Sammelband mit seinen Essays, Kommentaren und Glossen: „Aufgreifen, begreifen, angreifen“.
Unbestritten ist die Haltlosigkeit solcher Analogien. Ein Blick auf die völlig unterschiedlichen politischen und sozialen Kontexte der Aufstands-, Bürgerkriegs- und Protestbewegungen zwischen Nordafrika und dem Nahen Osten im Vergleich mit der Protestbewegung Ende der 60er Jahre genügt, um das zu erkennen. Die Unterschiede liegen auf der Hand. Und auch was die Träger und Teilnehmer der Protestbewegungen betrifft, sind sie schlicht unvergleichbar.
Die studentische Opposition von 68 wurde überall von einer sozial privilegierten Minderheit mit regional und national ganz unterschiedlichen politischen Motiven und Zielen getragen. Einigermaßen Übereinstimmung herrschte in der weltweiten Bewegung einzig bei der Ablehnung des Krieges und der Kriegsführung der USA in Vietnam. Die schlichtesten Interpreten der 68er Protestbewegung reduzieren diese deshalb bis heute auf die schwachsinnige Parole „Antiamerikanismus“.
Ein Blick auf die jüngsten Proteste in der Türkei illustriert die Haltlosigkeit der Vergleiche exemplarisch. Alan Posener etikettierte in der Welt (vom 15. 6.) die Demonstrationen als Beginn des „langen Marsches“ und verglich Erdogan mit Charles de Gaulle. Der Vergleich zwischen „französischem Mai“, „arabischem Frühling“ und „türkischem Sommer“ lebt nur von der jahreszeitlichen Kostümierung politischer Prozesse und dem Kurzschluss auf eine weltweit agierende „wutbürgerliche Mittelschicht“ (Posener).
Vernebelte Perspektive
In dieser vernebelnden Perspektive erscheinen türkische Demonstranten von heute als Wiedergänger der Stuttgarter Baumschützer und der studentischen Proteste zwischen Berkeley, Paris und Berlin gegen Kriegsverbrechen in Vietnam. Aber Protestbewegungen bewegen sich nicht im Leerlauf von Leitartikelphrasen, sondern entspringen historisch-politisch bestimmten Motiven und Zielen.
Das Beispiel zeigt, wie komplex die Frage ist, wie, durch wen und mit welchen Zielen sich Protest formiert. Mit den schnellen Zuschreibungen, wonach sich der Protest aus Verarmten, von Armut Bedrohten oder Mittelschichtsangehörigen zusammensetze, sind keine empirisch stichhaltigen Erklärungen über Ursachen, Motive und Ziele der sozialen Bewegungen zu gewinnen. Dasselbe gilt auch für die psychologisch oder medientheoretisch unterlegten Ansätze, wonach es „Opfer“ sind, die gegen „Täter“ rebellieren oder „Social Media“, die den Aufstand „organisieren“.
An die Erklärungskraft und die scharfe Trennbarkeit von Begriffen wie „Tätern“ und „Opfern“ in komplexen politischen Handlungskontexten glauben nur noch bornierte Juristen und esoterische Ferndiagnostiker. Die Einsicht, dass sich in fast jedem politischen Handeln Täter- und Opferrollen kreuzen und mischen, hat sich in den Sozialwissenschaften ebenso durchgesetzt wie in der Jurisprudenz.
Natürlich geht es nicht darum, Opfern von Gewalt ein Täterkostüm umzuhängen. Aber dass die triviale Psychologik – hier Täter, dort Opfer – nicht erst in Bürgerkriegen nicht funktioniert, sondern schon bei militanten Streiks, bei politischen Aktionen im Namen von zivilem Ungehorsam, ist evident. Historisch-politisch bestimmte Interessen und Rechtsansprüche, nicht anthropologisch gestrickte Projektionen in der Manier von Carl Schmitts Feind-Freund-Atavismus, prägen politische Konflikte. Darin Agierende passen selten auf das Schema von „Tätern“ und „Opfern“.
Mangels Wissen über Konflikte bemühen Interpreten von Protesten Analogien von den Bauernkriegen über die Französische Revolution bis zur Pariser Commune. Das sind bloß Verlegenheitskalküle, gewonnen aus Verdacht und Gerücht, spekulativen Befunden und freihändigen Improvisationen, die versuchen, belastbare Daten und brauchbare Kategorien zu ersetzen.
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