Debatte Nato: Erhöhte Risikofreude
Regionales Verteidigungsbündnis oder globale Ordnungsmacht? Noch ist der Richtungsstreit zwischen Revisionisten und den USA nicht entschieden.
B eim November-Gipfel in Lissabon will die Nato ihr neues strategisches Konzept verkünden. Bis dahin müssen die Meinungsunterschiede zwischen den Mitgliedstaaten überbrückt sein. Dieses Thema wird auch die Außen- und Verteidigungsminister beschäftigen, die diesen Donnerstag in Brüssel zusammenkommen.
Bisher konkurrierten in der Debatte über die künftige Ausrichtung der Allianz zwei gegenläufige Denkmodelle. Zurück zu den Wurzeln der Nato als Regionalbündnis zum Schutz gegen äußere Bedrohung zieht es die eine Fraktion. Vorwärts auf dem Weg zur universalen Ordnungsmacht mit globalem Wirkungsanspruch strebt das alternative Modell. Beide Varianten überzeugen nicht.
Europäische Revisionisten
Das Vorgängerkonzept vom April 1999, mitten im Kosovokrieg verabschiedet, kreierte das Wortungetüm von den "nicht unter Artikel 5 fallenden Krisenreaktionseinsätzen". Gemeint waren militärische Operationen jenseits des klassischen Verteidigungsauftrags und außerhalb der vertraglichen Bündnisgrenzen. Darin läge die Zukunft der Nato. Vorkehrungen gegen einen nicht mehr befürchteten Angriff auf das Bündnisgebiet traten in den Hintergrund.
war bis 2006 geschäftsführender wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg. Inzwischen ist er pensioniert.
Die mittelost- und südosteuropäischen Regierungen möchten diese Rangfolge wieder umkehren. Sie fordern sichtbare Vorbereitungen auf einen bewaffneten Konflikt samt demonstrativer Krisenfallplanung, also vorverlegte alliierte Truppen plus gemeinsame Manöver.
Würde die Nato diesem Wunsch nachkommen, müsste sie ihren Vorsatz, die Beziehungen zu Russland zu normalisieren, wohl abschreiben. Zu deutlich dominiert hier das revisionistische Motiv. Aus der bisher nur rechtlich und politisch gezogenen Ostgrenze würde wieder eine militärisch befestigte Frontlinie. Wie im Kalten Krieg stünden sich westliche und russische Soldaten auf Sichtweite gegenüber.
Der Kaukasuskrieg vor zwei Jahren kann als Warnung dienen. Augenblicklich eskalierte ein lokaler Sezessionskonflikt zur internationalen Großkrise. In Brüssel berieten damals die Botschafter der Allianz über die Entsendung der Nato-Response-Force. Wie nahe der Westen einem militärischen Zusammenstoß mit Russland war, lässt sich nur erahnen.
Also doch als Aufgabenschwerpunkt die Krisenreaktionseinsätze, die der Ehrlichkeit halber besser bewaffnete Interventionen hießen? Mit ihnen hat man mittlerweile Erfahrungen gesammelt, vorwiegend schlechte. Schon die Stationierungsdauer in den Zielländern spricht für sich. In Afghanistan stehen alliierte Streitkräfte seit neun Jahren, im Kosovo seit elf, in Bosnien seit fünfzehn Jahren.
Am Hindukusch ist die Hoffnung auf den militärischen Sieg verflogen. Auf dem Balkan kam viel mehr als Gewaltunterbindung nicht zustande. Bosnien und das Kosovo sind auf dem Papier souveräne Staaten, de facto aber immer noch Quasi-Protektorate. Wird Krisenbewältigung am langfristigen Ziel des selbsttragenden Friedens gemessen, hat sich das militärische Instrument als stumpfes Schwert erwiesen.
860 US-Militärbasen weltweit
Will man wissen, wohin sich die Nato bewegt, muss man wissen, wohin die Führungsmacht tendiert. Zum Markenzeichen amerikanischer Auslandsaktivitäten wird zunehmend der verdeckte Kampf. Er kann auf ein weltumspannendes Netz überseeischer Stützpunkte zurückgreifen.
Bemerkenswerte 860 Militärbasen unterhalten die USA, verteilt auf mehr als 90 Länder, die Hälfte davon erst während der Bush-Administration entstanden. Von dort aus operieren Spezialkräfte in derzeit 75 Staaten mal mit, meist aber ohne Wissen der betreffenden Regierungen. Betroffen von diesen Operationen sind neben Afghanistan und dem Irak Länder wie Somalia, Jemen, Saudi-Arabien und Iran.
Der Auftrag lautet, so die New York Times unter Berufung auf das zuständige Einsatzkommando in Florida, militante Gruppen "zu unterwandern, zu stören, abzuwehren oder zu vernichten". Die Verstärkung, Ausrüstung und der Aufbau einer Infrastruktur für die unkonventionellen Antiterrorkrieger machen inzwischen den größten Wachstumsfaktor im amerikanischen Streitkräftehaushalt aus.
Nato attackiert Atommacht
Dieser Paradigmenwechsel führt dazu, dass sich das Risikobewusstsein zunehmend verliert. Die Fähigkeit zu unterscheiden, welche Fragen eine militärische Antwort vertragen und welche nicht, nimmt ab. Angriffe der CIA mit unbemannten Flugkörpern auf grenznahe Ziele in Pakistan sind zur Routine geworden, als hätte der Amtswechsel im Weißen Haus gar nicht stattgefunden. Die Anzeichen mehren sich, dass neuerdings auch andere Mitgliedstaaten daran mitwirken. Im Klartext: Das Bündnis attackiert derzeit eine Atommacht.
Auf derselben Linie liegt der Hang der Nato, immer neue Tätigkeitsfelder zu usurpieren - erst Energiesicherheit, nun Cyber-Sicherheit. Was, bitte, muss man darunter verstehen? Sollen Kommandokräfte ausschwärmen, wenn das Öl aus den Pipelines wieder einmal nur tröpfelt? Oder Killerdrohnen abheben, um lästige Hacker außer Gefecht zu setzen? Und welcher Einfall käme dann als Nächstes - vielleicht die Währungssicherheit, die "verteidigt" werden müsste, wenn sich kommerzielle Konkurrenten am Weltmarkt erdreisten, ihre Exportgüter durch niedrige Wechselkurse zu subventionieren?
Die Nato ist inzwischen 61 Jahre alt. Die Verantwortlichen sollten wieder einmal den Nordatlantikvertrag zur Hand nehmen, die Gründungsurkunde ihrer Wertegemeinschaft, und die UNO-Charta dagegenhalten. Eine überraschende Erkenntnis wäre ihnen gewiss: Beide Dokumente sind aus demselben Stoff, sie sprechen dieselbe Sprache. Denn beide legen die Priorität auf die zivile vor der militärischen Konfliktlösung und binden das Überschreiten der Gewaltschwelle an strikte Bedingungen.
In Zeiten globaler Terrordrohung - sei es durch Selbstmordtäter, sei es durch "Schurkenstaaten" - ein überholter Standpunkt, wenden Kritiker ein. Sie mögen sich umsehen in der Konfliktrealität von heute und fragen, ob der schnelle Griff zu den Waffen die tückischen neuen Gewaltformen wirklich bezwingt. Oder nicht vielmehr erst schürt.
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