Debatte Kinderarmut: Aus Prinzip ausgegrenzt
Union und SPD haben viel über Kinderarmut geredet, aber bislang keine einzige wirksame Maßnahme auf den Weg gebracht. Das ist ein sozialpolitischer Skandal.
Die Wirtschaft boomt - und dennoch wächst die Kinderarmut. Inzwischen beziehen rund 2,2 Millionen Minderjährige Hartz IV. Auf diesen sozialpolitischen Skandal hat die Bundesrepublik bislang keine Antwort gefunden. Noch schlimmer: An diesen bedürftigen Kinder und Jugendlichen wird auch noch gespart. Bis zu 13 Jahren stehen ihnen 208 Euro monatlich zu; ab 14 Jahren sind es dann 278 Euro. Diese Beträge stehen in keinerlei Bezug zu dem, was ein Kind braucht und "kostet". Vielmehr wurden die Sätze einfach mit 60 oder 80 Prozent von jenen 347 Euro angesetzt, die ein alleinstehender und erwachsener Hartz-IV-Bezieher erhält. Ein Kind ist aber kein anteiliger Erwachsener, sondern hat spezifische Bedürfnisse.
Die realen Kosten von Kindern werden nicht berücksichtigt, weil die Regierung eine abenteuerliche statistische Grundlage wählte: Das Bundesarbeitsministerium ermittelte die 347 Euro für Erwachsene, indem es untersuchte, wofür die ärmsten 20 Prozent der Ein-Personen-Haushalte jeweils wie viel Geld ausgeben. Da in Ein-Personen-Haushalten aber definitionsgemäß keine Kinder leben, fallen Kosten für Babywindeln oder für Schuhe für schnell wachsende Kinderfüße gar nicht an! Bei Hartz IV werden spezifische Ausgaben für Kinder systematisch ausgeblendet. So erklären sich die völlig realitätsfernen Beträge eines aufgeschlüsselten Leistungssatzes: etwa die angesetzten 76 Cent monatlich für Spielsachen oder die 1,63 Euro für Stifte, Malblock, Hefte und den Farbkasten.
Wie könnte ein alternatives Verfahren aussehen, das besser vor Armut schützt? Dazu muss man sich zunächst verständigen, wie Armut zu verstehen ist: In einem reichen Land ist Mangel nicht unbedingt mit Hunger gleichzusetzen. Armut ist ein Ausdruck sozialer Ungleichheit. Arm ist, wer sich vieles nicht leisten kann, was für die große Mehrheit selbstverständlich zum Leben dazugehört. Für Kinder bedeutet dies oftmals, nicht mitspielen zu können. Armut zu überwinden hieße demnach, die Einkommensunterschiede zu begrenzen - damit Lebenslagen noch als halbwegs vergleichbar gelten können.
Als Ausgangspunkt für die Hartz-IV-Sätze für Minderjährige sollten daher die tatsächlichen Ausgaben der mittleren Einkommensgruppe für ihren Nachwuchs herangezogen werden. Entsprechende Daten liegen beim Statistischen Bundesamt vor, die nach elf Bereichen wie etwa Ernährung, Bekleidung oder Freizeit differenziert sind. Für ein Schulkind zwischen 6 und 11 Jahren werden beispielsweise 450 Euro monatlich ausgegeben.
In einem zweiten Schritt wäre dann politisch zu entscheiden, welcher Anteil der jeweiligen Ausgaben auch Hartz-IV-Kindern zugestanden wird. In "sensiblen" Bereichen, die nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängig sein dürfen, sollten die statistisch erfassten Ausgaben für ein Kind zu 100 Prozent übernommen werden. Dies betrifft die Ausgaben für Gesundheit, Bildung sowie für Essen und Trinken. Die anderen Positionen, von der Eintrittskarte ins Schwimmbad bis zum Kinderfahrrad, sollten zu 50 Prozent in die Hartz-IV-Sätze einfließen - als Mindestmaß an Teilhabe.
Durchgerechnet ergeben sich nach diesem Verfahren annäherungsweise folgende Geldbeträge: 290 Euro monatlich für Kinder bis 5 Jahren, 340 Euro für Kinder zwischen 6 und 11 Jahren und 390 Euro ab 12 Jahren. Darin eingerechnet ist auch ein Inflationsausgleich, der Hartz-IV-Beziehern bisher verwehrt wird: Die Regelsätze sind seit 2003 nur um knapp 2 Prozent gestiegen, die Preise aber um 12 Prozent. Sicherlich kann man über einzelne Stellschrauben des Vorschlags wie die genannten Prozentanteile trefflich streiten. Die Hartz-IV-Sätze aber zukünftig als Mindestanteil der tatsächlichen Kosten für ein Kind zu bemessen und nicht mehr vom Konsumverhalten armer Erwachsener abzuleiten, ist ein längst überfälliger Schritt.
Höhere Hartz-IV-Sätze reichen aber alleine nicht aus. Denn auch für Geringverdienende mit Kindern gilt: Das Geld reicht fast nie bis zum Ende des Monats. Daher muss auch der bestehende Kinderzuschlag von zurzeit maximal 140 Euro entsprechend erhöht werden.
Unbestritten: Kinderarmut hat viele Facetten und umfasst mehr als nur einen Mangel an Geld. Ob Eltern die Lust ihres Kindes an Bewegung und Sport befördern, hängt nicht nur vom Kontostand ab. Aber es ist eine Voraussetzung für die Förderung der Kinder, sich Sportschuhe oder den Beitrag für den Sportverein auch leisten zu können.
Alternativ zu höheren Geldleistungen werden vielfach kostenlose oder stark ermäßigte Angebote vorgeschlagen. Sozialrabatte für den Besuch der Kita oder das Mittagessen in der Schule sind tatsächlich unproblematisch und sinnvoll. In anderen Bereichen sind Sachleistungen aber abzulehnen: So dürfen Kinder nicht über bereitgestellte, einheitliche Schultornister als "Hartz-IV-Kinder" auffallen. Sonst kann man ihnen das Stigma "Hartz IV" auch gleich auf die Stirn stempeln. Bereitgestellte Sachmittel schaffen auch nicht mehr Teilhabe am "normalen" Leben, sondern stattdessen werden Arme in Sonderversorgungssystemen ausgegrenzt, während alle anderen im normalen Einzelhandel einkaufen. Eine sozialwissenschaftliche Untersuchung für die Stadt Nürnberg widerlegt zudem das Bild vom dosenbiertrinkenden Hartz-IV-Bezieher, dem der Plasma-TV wichtiger ist als seine Kinder: Arme Eltern schränken sich im Regelfall selbst ein, um ihren Kindern ein möglichst gutes Leben bieten zu können.
Realistischerweise werden sich bedarfsorientierte Leistungen für Kinder nur schrittweise und gegen erhebliche Widerstände durchsetzen lassen. So würde das hier vorgeschlagene Verfahren gut 3 Milliarden Euro jährlich kosten, wenn man jene 2,2 Millionen Minderjährigen berücksichtigt, die heute Hartz IV beziehen. Vor allem aber müssten auch die Sätze für die Erwachsenen steigen: Wenn 390 Euro ab 12 Jahren angemessen sind, dann ist kaum noch zu begründen, warum die Eltern nur maximal 347 Euro erhalten sollen. Eine Anhebung der Sätze torpedierte jedoch die Niedriglohnstrategie, bei der Hartz IV bewusst gering angesetzt ist, damit schlecht bezahlte Jobs angenommen werden. Kinderarmut wird in Kauf genommen, um Niedriglöhne durchzusetzen.
Als Sofortmaßnahmen sollten zumindest eine zusätzliche Beihilfe für die Schule gewährt und die Leistungshöhe stärker nach dem Alter gestaffelt werden. Das bedeutet übrigens nur, eine Kürzung zurückzunehmen: In der alten Sozialhilfe galt für Schulkinder noch ein erhöhter Satz. Seit Hartz IV werden Schulkinder bis 13 Jahren auf das Niveau von Säuglingen herabgesetzt.
Union und SPD haben viel über Kinderarmut geredet, aber bislang keine einzige wirksame Maßnahme auf den Weg gebracht. Mit jedem Monat Untätigkeit werden armen Kindern weitere Bildungs- und Entwicklungschancen geraubt - und damit auch ein Stück Zukunft.
MARTIN KÜNKLER
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