Debatte Jugendkriminalität und Abschiebungen: Abschreckende Heimat
Die Gesellschaft muss sich zu ihrer Verantwortung für junge ausländische Straftäter bekennen, die hier aufgewachsen sind. Ihre Abschiebung käme einer Verbannung gleich.
D er Sprengstoff namens "ausländische Jugendkriminalität", mit dem Roland Koch im hessischen Wahlkampf hantiert, besteht aus drei Komponenten: Angst vor dem scheinbar allgegenwärtigen Verbrechen, Angst vor der enthemmten jugendlichen Aggression und Angst vor dem unbekannten Fremden, der einem in Gestalt des jugendlichen, männlichen Ausländers anfällt. Erst in ihrem Zusammenwirken entfalten sie ihre potenziell verheerende Zerstörungskraft. Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch, oder es ist sogar schon da: Roland Kochs Katalog strafverschärfender Maßnahmen.
Der Katalog ist keineswegs eilig zusammengestellt, sondern ein Projekt, dem eine perfide Konsequenz nicht abzusprechen ist. Das zeigt sich an dem Vorschlag, die Anwendung von Erwachsenenstrafrecht bei heranwachsenden Jugendlichen zum Regelfall zu machen und das Strafmaß, ab dem ein ausländischer Straftäter abgeschoben werden muss, auf eine einjährige Gefängnisstrafe herabzusetzen. Die Kombination dieser beiden Maßnahmen würde nach Koch eine effiziente Abschiebungspraxis ermöglichen und zudem eine maximale Abschreckungswirkung auf ausländische Jugendliche zur Folge haben, kurz: eine Generalprävention.
Die rechtlichen Hindernisse, die der Verwirklichung dieser "Reform" entgegenstehen, sind offensichtlich. Nicht nur wären die einschlägigen Bestimmungen des Aufenthaltsgesetzes zu ändern, die für jugendliche Ausländer die Voraussetzungen für eine Ausweisung erhöhen. Zudem bestimmt das völkerrechtlich bindende Assoziierungsabkommen der EU mit der Türkei, dass für straffällig gewordene Türken umfassende Ermessensprüfungen vorzunehmen sind. Noch restriktiver sind laut EU-Richtlinie die Ausweisungsmöglichkeiten für jugendliche Ausländer, die aus einem EU-Land stammen, beispielsweise aus Griechenland.
Der geplanten Kochschen Ausweisungspraxis stünde auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte entgegen. Denn sie fordert, dass die familiären, sozialen und kulturellen Bindungen des kriminell gewordenen ausländischen Jugendlichen an das "Gastland" berücksichtigen werden müssen.
Also alles nur Kochsche Knallkörper - laut, aber ungefährlich? Keineswegs. Zwar bestärkt der strafverschärfende Maßnahmenkatalog Kochs im öffentlichen Bewusstsein die Auffasung, der hessische Ministerpräsident sei durchgeknallt und seine Vorschläge abzulehnen. Aber die Abschiebung jugendlicher Straftäter erscheint "an sich" unter einschränkenden Bedingungen gerecht und sinnvoll. Es gibt auch für Koch keinen Anlass, das mühsam reformierte Ausländer- und Zuwanderungsrecht erneut auf dem Prüfstand zu stellen. Die gesetzlichen Bestimmungen "reichen aus". Und das ist auch der gegenwärtige Konsens im linksliberalem Milieu.
2001 war das noch anders, auch in der mit der Zuwanderung befasstem unabhängige Süssmuth-Kommission. Sie kam einhellig zu dem Ergebnis, dass ein vollständiger Schutz vor Ausweisung für ausländische Kinder, Jugendliche und Heranwachsende unabdingbar sei. Die Kommission war der Meinung, dass sich die deutsche Gesellschaft zu ihrer Verantwortung bekennen müsse und sie keinesfalls an andere Länder delegieren dürfe. Schließlich seien die jugendlichen Ausländer in ihrer großen Mehrheit de facto Inländer.
Nichts hat seither diese Einschätzungen der Süssmuth-Kommission widerlegt. Die meisten der jugendlichen ausländischen Straftäter sind in Deutschland aufgewachsen und haben zu ihrem ausländischen Geburtsland keine Bindungen. Die Ausweisung trifft sie viel schärfer, hat für sie viel gravierendere Wirkungen als die Strafe, zu der sie verurteilt worden sind.
Das geltende deutsche Recht betont, dass die Ausweisung wie die ihr folgende Abschiebung keine Strafe sei, sondern eine ordnungsrechtliche Maßnahme, eigentlich dem Polizeirecht zugehörig. So auch das Bundesverfassungsgericht. Diese Rechtsauffassung ignoriert die einschneidenden menschlichen Folgen von Ausweisung oder Abschiebung und statuiert die Abschiebung als Verwaltungsakt. Auf diese Weise muss man zwei unbequeme Frage nicht vorlegen: Handelt es sich bei der Abschiebung nicht um eine doppelte Bestrafung des jungen Ausländers, der ja vorher schon inhaftiert war? Und: Verletzt man nicht die im Grundgesetz verbürgte Gleichheit vor dem Gesetz, wenn man junge ausländischer Straftäter nach der Haft abschiebt, während ihre deutschen straffälligen Altersgenossen nur eine Haftstrafe absitzen müssen. In Frankreich war man in der öffentlichen Diskussion hier weniger schamhaft. Die Kritik an der Doppelbestrafung war so scharf und deutlich, dass ausgerechnet der damalige Innenminister Sarkozy jugendliche Ausländer nach Verbüßung ihrer Gefängnisstrafe nicht abschob.
Die Ausweisung und Abschiebung ausländischer jugendlicher Straftäter erfüllt exakt einen Straftatbestand, der im deutschen Recht längst nicht mehr existiert, den der Verbannung. Im älteren deutschen Recht gab es keinen Zweifel daran, dass Verbannung eine Strafe ist, wenn sie auch in den Stadtrechten der frühen Neuzeit oft wie eine Polizeimaßnahme gegenüber unerwünschten Personen wie Bettlern gehandhabt wurde. Wer gegen das Verbannungsurteil verstieß und heimlich zurückkehrte, musste mit schweren Strafen bis hin zur Todesstrafe rechnen.Verbannung konnte als zeitliche Strafe oder lebenslang erfolgen. Hier hat die zeitgenössische Verbannung kraft Abschiebung noch schwerwiegendere Folgen. Sie wirkt de facto lebenslang und ist nicht nur auf Deutschland bezogen sondern, kraft Eintrag in das Schengener Informationssystem, auf den gesamten Schengenraum. Zwar kann die Ausweisung auf Antrag des ausländischen Jugendlichen zeitlich befristet werden, aber die Hürden für eine erneute Visumsbewilligung sind so hoch, dass die Abschiebung einem endgültigen Verbannungsurteil gleichkommt.
Eine besondere Pointe erhält dieses Verbannungsurteil dadurch, dass der Jugendliche in sein "Ursprungsland" abgeschoben wird. Was bedeutet ein solcher geografischer Bezug? Offensichtlich ist damit nicht die Absicht verbunden, günstigere Bedingungen für die Resozialisierung des Jugendlichen in seinem angestammten kulturellen und sozialen Umfeld zu schaffen. Denn dieses Umfeld ist ja in Deutschland angesiedelt. Die Abschiebung ins "Heimatland" folgt vielmehr dem Impetus, den jugendlichen Straftäter in ein Milieu zu versetzen, das als so rückständig, als so atavistisch, als so der Kultur ermangelnd erachtet wird, dass es als dem abgeschobenen Jugendlichen gemäß ist. Die Straftat des ausländischen Jugendlichen wird fälschlicher Weise nicht aus den sozialen Bedingungen seines Lebens in Deutschland hergeleitet, sondern aus seinem Anderssein, also seinem Minderwertigsein als Ausländer.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid