piwik no script img

Debatte Geschlossene HeimeZwang und Schutz

Kommentar von Nina Knauerhase

Lange ging es in der Debatte um Kinderheime gegen das „Wegsperren“. Diese Tabuisierung hat alles nur noch schlimmer gemacht.

Schutzraum oder Gefängnis? Bild: getty images

Menschen statt Mauern“ – dieser Slogan wurde in Hamburg in der Diskussion in den 80er Jahren um die Abschaffung geschlossener Jugendheime geprägt. Dabei positionierten sich vor allem Vertreter der Jugendhilfe gegen das „Wegsperren“ insbesondere straffälliger Jugendlicher.

Diese Haltung wird in der Diskussion um die desolaten Zustände in einem brandenburgischen Jugendheim der Haasenburg GmbH aktualisiert. Sie erscheint zunächst verständlich. Zugleich führt aber die daraus abgeleitete, grundsätzliche Tabuisierung geschlossener Jugendheime in Hamburg dazu, dass profitorientierte Heimbetreiber wie die Haasenburg GmbH die Lücke schließen.

Die Jugendlichen, um die es hier geht, haben in ihren Herkunftsfamilien extreme Traumatisierungen erfahren. Sie wurden missbraucht, misshandelt, vernachlässigt. In der Folge sind viele von ihnen auf der Suche nach Erwachsenen, die ihnen Halt bieten. Zugleich müssen sie alles daran setzen, sich diesen Bezugspersonen zu entziehen. Neue Beziehungen bedeuten auch Ängste vor erneuter Ohnmacht und Auslieferung.

Nina Knauerhase

ist Psychotherapeutin und hat lange Jahre mit Psychose- und Borderline-Patienten sowie in der Kinder-und Jugendpsychiatrie gearbeitet. Inzwischen hat sie sich mit einer Praxis in Itzehoe niedergelassen.

Diesem Dilemma ist nicht mit einer Polarisierung „freundliche“ offene Jugendhilfeeinrichtungen versus „böse“ geschlossene Unterbringungsformen zu begegnen. So stellte die Enquetekommission zur Jugendkriminalität der Hamburger Bürgerschaft in zahlreichen Befragungen 2001 fest, dass Jugendliche auf geschlossene Einrichtungen nicht nur ablehnend reagieren.

„Schwierige“ Fälle werden verlegt

Obwohl die Freiheitseinschränkung skeptisch betrachtet wird, honoriert eine Mehrheit gleichzeitig, dass die Betreuer ihnen eine belastbare Beziehung anbieten. In offenen Einrichtungen der Jugendhilfe mussten insbesondere „schwierige“ Jugendliche häufig entgegengesetzte Erfahrungen machen.

Dort kommt es in Grenzsituationen wie „Ausrasten“, Gewaltandrohung oder -ausübung und Suizidalität häufig zur Verlegungen in die Kinder- und Jugendpsychiatrie, was zum Abbruch der Beziehung zu Betreuern und Mitbewohnern in der Wohngruppe führt. Auf die Sicherheit und den Halt des geschlossenen Rahmens kann daher im Ernstfall nicht verzichtet werden.

Die Diskussion um die „geschlossene Unterbringung“ scheint eher von politischen Auseinandersetzungen als von fachlichen Überlegungen geprägt. Entsprechend unterliegt die Anzahl der Plätze in geschlossenen Jugendheimen extremen Schwankungen. Seit 1980 ist ein starker Rückgang der Plätze zu verzeichnen, der ab 2004 wieder anstieg. Derzeit gibt es bundesweit etwa 370 Plätze, dabei etwa 110 für Mädchen, 160 für Jungen und 100 gemischte. Bundesländer, die geschlossene Heime haben, sind Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Hessen, Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg, Brandenburg und Bayern. Bayern hat mit 126 Plätzen die größte Anzahl.

Mehr Grautöne zulassen

In Hamburg gibt es seit der Schließung der „Geschlossenen Unterbringung Feuerbergstraße“ keine entsprechenden Plätze mehr. Die Jugendlichen wurden daher diskret etwa in der Haasenburg in Brandenburg untergebracht. Dies verstärkt das Gefühl der Jugendlichen, abgeschoben zu werden, und vertieft die für sie ohnehin kaum aushaltbaren Brüche mit den Herkunftsfamilien.

Aus fachlicher Sicht stellt sich die Frage, ob eine Einrichtung, die den Jugendlichen gerecht wird, nicht mehr Grautöne zulassen müsste. So ist es entscheidend, dass den Jugendlichen eine langfristige Beziehungskontinuität ermöglicht wird. Leider sind „nur geschlossene Heime“ in der Regel für einen Zeitraum von rund einem Jahr konzipiert, was angesichts der extremen Probleme der Jugendlichen viel zu kurz ist.

In Bundesländern, in denen es geschlossene Unterbringungen gibt, wird in einigen Heimen versucht, flexible Übergänge zwischen geschlossenen und offenen Bereichen zu entwickeln. Der geschlossene Bereich sollte dabei nicht im Sinne einer Straf- und Disziplinierungsmaßnahme verstanden werden, sondern als Versuch, den Jugendlichen eine Bindung zu ermöglichen, auf die sie sich zunächst selbst nicht einlassen können.

Dieses Vorgehen ist natürlich nicht konfliktfrei und wirft die Frage auf, ob sich eine Beziehung „erzwingen“ lässt. Dem stehen jedoch die extremen Selbst-und Fremdschädigungen der Jugendlichen gegenüber, die Begrenzung und Schutz erfordern.

Die Kontrolle der Betreuer

Eine entsprechende Einrichtung muss fachlich und personell sorgfältig konzipiert und beforscht werden. Die aktuelle, berechtigte Empörung über Zustände wie in der Haasenburg führt zu einer aufgeheizten und emotionalisierten öffentlichen Diskussion, der die Tatsache gegenübersteht, dass es kaum Forschungsergebnisse zu geschlossenen Unterbringungsformen gibt. Während einerseits eine öffentliche Kontrolle dieser Heime erforderlich ist, führen Polarisierungen dazu, dass die Diskussion stark verkürzt wird.

Im Mittelpunkt der Planung und Untersuchung müssen – neben den Jugendlichen – die Betreuer stehen. Diese müssen die menschliche und fachliche Gratwanderung vollbringen, sich trotz Beleidigungen, Gewalt, Drohungen, Eskalationen oder Entwertungen für die Jugendlichen zu engagieren. Sie müssen in der Lage sein, Gefühle von Ohnmacht, Hilflosigkeit, Wut, Handlungsunfähigkeit und Verzweiflung, die in der Arbeit mit diesen Jugendlichen entstehen, als Reaktion auf deren inneren Zustand zu verstehen, anstatt mithilfe von Rigidität, Bestrafung und „Drill“ abzuwehren.

In dieser sehr schwierigen Arbeit sollten die Betreuer umfassende Unterstützung durch Supervisionen, fachliche Anleitung, Teamarbeit und Ähnliches erfahren und sich in ihrer Arbeit mit den Jugendlichen immer wieder infrage stellen lassen müssen.

Es sollte ihnen jedoch erspart bleiben, mit den Jugendlichen im Kreuzfeuer einer ideologischen Debatte zu stehen, die die Jugendlichen zwar funktionalisiert, ihnen aber Antworten auf die Frage nach einer verlässlichen Bindung trotz ihrer phasenweisen „Unaushaltbarkeit“ schuldig bleibt. Möglicherweise sind dafür zumindest phasenweise Menschen und Mauern erforderlich.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

8 Kommentare

 / 
Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • A
    Arne

    Die Argumentation der fehlenden Beziehungen in offenen Jugendhilfeamaßnahmen ist völlig aus der Luft gegriffen. Dafür gibt es die individualpädagogische Betreuung in 1:1-Maßnahmen in sozialpädagogischen Lebensgemeinschaften, die wesentlich preiswerter sind als geschlossene Heime. Sie haben auch den Vorteil, dass der Betreuer immer anwesend ist und ausschließlich für den Jugendlichen da ist.

     

    Natürlich muss der Betreuer in solchen Maßnahmen so belastbar sein, dass er nicht gleich mit Polizei u.ä. droht, wenn mal ein gewaltätiger Konflikt entsteht. Psychiatrien stellen immer nur eine kurzfristige Möglichkeit da in akuten Zuständen.

     

    Mir kommt es nicht so vor, als wisse der Autor viel über Jugendhilfemaßnahmen.

  • NG
    neuer Gast

    Ich vermisse da etwas Einfühlungsvermögen mit den Opfern der "traumatisierten Jugendlichen". Es geht nicht nur darum, den Jugendlichen zu helfen, sondern dafür zu sorgen, dass nicht deren Opfer "traumatisiert" werden, wenn sie einerseits Opfer der Straftat werden und danach dem Täter wieder auf freier Flur begegnen müssen.

    • A
      Arne
      @neuer Gast:

      "Die Jugendlichen, um die es hier geht, haben in ihren Herkunftsfamilien extreme Traumatisierungen erfahren. Sie wurden missbraucht, misshandelt, vernachlässigt." Steht so im Artikel. Welche Opfer soll es da geben, wenn nicht die Jugendlichen selbst?

       

      Ein Grund zur Einweisung in eine geschlossene Einrichtung, die mal von der TAZ kommentiert wurde, war Schulverweigerung. Es steht Ihnen frei, sich in das arme Opfer einzufühlen. Der arme Lehrer, der dauernd den fehlenden Namen im Klassenbuch eintragen muss und der arme, arme Verwaltungsbeamte im Schulamt, der deshalb Briefe schreiben muss. Wie halten Lehrer und Verwaltungsbeamte diese Traumatisierungen nur aus?

    • S
      Susanna
      @neuer Gast:

      Was hat das jetzt mit den illegalen Praktiken in der Haasenburg zu tun?

  • E
    exerzieher

    Gewinnorientierte Betreiber? Man zeige mir einen Betreiber, der nicht gewinnorientiert ist. Geschlossene Plätze kosten viel Geld und sind gefragt, weil man sich darauf stützt, dass man traumatisierten Jugendlichen nicht anders helfen kann. Dann hocken sie in diesen Einrichtungen und werden begrenzt. Ich habe erlebt, dass hierzu ein Baucontainer benutzt wurde, der auf dem Gelände einer Einrichtung stand, weil das Zimmer, welches zur "Beruhigung" gedacht war, belegt wurde, ist klar, brachte am Tag mehr als 200 Euro. Ich habe erlebt, dass in einer anderen Einrichtung Kinder zur "Beruhigung" in einen Raum gesperrt wurden, der mich an eine Dusche erinnerte, ohne Duschwanne, ohne Fenster, raus gelassen wurden sie, wenn sie ruhig waren. Dann wunderte man sich doch tatsächlich über das Gewaltpotential dieser Kinder und Jugendlichen. Supervision, ja bitte, doch die findet nicht statt, weil sie Geld kostet!!! Und Kontrollen, die finden auch nicht statt, weil sich, so lange keine Anzeigen, oder Meldungen vorliegen, niemand zuständig fühlt! Aber bitte, wir diskutieren in diesem Land weiter, über geschlossene Einrichtungen. Es ist nicht auszuhalten, wenn man weiß, was hinter diesen Mauern vor sich geht!

  • und wo hängt das Kardinalproblem? Wenn geschlossene Heime nun nicht total abzulehnen sind, um den Jugendlichen stabile Beziehungen zu bieten, sind denn dann wenigstens in der Haasenburg die sonstigen Anforderungen gewährleistet?- sprich, dass die Jugendlichen dort nicht wieder vernachlässigt werden, ihnen die notwendigen Therapiemaßnahmen zukommen, dass die keiner gewalt ausgesetzt sind und wenn doch diese nicht ans Tageslicht kommt, weil es keine ausreichenden Kontrollen gibt. Es ist nur zu bekannt aus anderen auch staatlichen Einrichtungen, etwa in der Altenpflege, dass die nach außen immer wieder formulierten Prinzipien des humanen Umgangs sich nicht umsetzen lassen, weil man schlicht zu wenig Geld zur Verfügung hat, zu wenig und zu schlecht bezahltes Personal hat etc und das ist ein Massenphänomen. Das private Einrichtungen, die auf Gewinn orientiert sind, da besonders versucht sind die Standarts herabzusetzen, weil ansonsten Verlust droht verwundert da nicht. In aller Regel- GlAUBE ich- wissen ausgebildete Kräfte aber schon über die verschiedenen Therapiemöglichkeiten und die eignetlich notwenigen Standarts bescheid, und brauchen sich nicht mit Diskussionen von Laien herumschlagen ob geschlossen Einrichtungen denn nun total abzulehnen sind. Die Frage ist, leistet die Haasenburg die sonstigen Standarts, die zur erfolgreichen Therapie der Jugendlichen notwendig sind oder nicht?

    • @ingrid werner:

      Als "sonstige Standards" wäre dann was zu nennen? Die Örtlichkeit, die Entfernung zum gewohnten Sozialraum etc.? Wahrscheinlich, aber alles andere ist den gut recherchierten Artikeln der "taz" nicht zu entnehmen. Ich wage also die These, dass die "Haasenburg" in keinster Weise traumatisierten Kindern weiterhilft. Die Mitarbeiter scheinen nicht zwischen normal adoleszentem Verhalten und Triggern, die auf Traumata schließen lassen, unterscheiden zu können. Viel schlimmer wäre es wenn sie nicht wollen.