Debatte Flüchtlingspolitik: Zeit für Kontingente
Immer weniger Flüchtlinge schaffen den Weg nach Deutschland. Schutzbedürftige sollten deshalb direkt zu uns geholt werden.
D eutschland pustet durch. Die Zahl neu ankommender Flüchtlinge hat sich auf einem Niveau eingependelt, das es kaum noch in die Nachrichten schafft. Die „Flüchtlingskrise“ als Phase der permanenten Überforderung ist vorbei. Jetzt wäre endlich Zeit für eine offene Diskussion über die Aufnahme angemessen großer Flüchtlingskontingente.
Während im Vorjahr knapp eine Million Flüchtlinge nach Deutschland kam, sind es seit März nur noch zwischen 15.000 und 20.000 pro Monat. Auf ein Jahr hochgerechnet sind das rund 200.000 Menschen. Im Vergleich zu den anderen großen EU-Staaten ist das immer noch viel. Mit Blick auf die globale Situation gibt es aber keinen Grund zur Selbstzufriedenheit.
Laut Zählung des UN-Flüchtlingshochkommissars (UNHCR) haben noch nie so viele Menschen ihre Heimat verlassen wie derzeit: 64 Millionen Menschen. Die wenigsten von ihnen kamen nach Europa. Während es also nur fair wäre, mehr Flüchtlinge in Europa aufzunehmen, ging die Zahl neuer Flüchtlinge ab März sogar schlagartig zurück.
Balkanroute geschlossen
Anders als oft behauptet ist das umstrittene Abkommen der EU mit der Türkei nicht Grund des Rückgangs. Da die griechische Asylbehörde die Türkei nicht als sicheren Drittstaat anerkennt, wurde noch kein Flüchtling auf dieser Grundlage in die Türkei zurückgebracht.
Ursache für den massiv reduzierten Flüchtlingszuwachs ist vielmehr die Schließung der Balkanroute. Seit Anfang März ist die Grenze zwischen Mazedonien und Griechenland dicht. Wer nach Griechenland kommt, muss nun dort Asyl beantragen. Viele Flüchtlinge kommen deshalb gar nicht erst nach Europa.
Die Schließung der mazedonischen Grenze war eine koordinierte Aktion der Nachbarstaaten; damals gegen den Willen der deutschen Kanzlerin, die auf das Türkei-Abkommen setzte. Heute will aber auch Angela Merkel den mazedonische Riegel nicht mehr lockern. Denn die Öffnung der Balkanroute wäre die sofortige Rückkehr zu Zuständen wie im Herbst 2015. Das würde die Bundesregierung politisch nicht überleben. Schließlich ist nur ein sehr kleiner Bruchteil der deutschen Bevölkerung für eine unbegrenzte Aufnahme von Flüchtlingen.
Einige Flüchtlinge kommen aber auch bei geschlossenen Grenzen durch, oft mithilfe von Schleppern, die aber immer teurer werden. Eine Flucht nach Deutschland wird so wieder zum Privileg der Zahlungskräftigen – und der kräftigen jungen Männer, die manchmal eben doch einen Weg finden. Die besonders Schutzbedürftigen – Schwache, Frauen, Kinder – bleiben eher dort, wo sie sind: in der Türkei und anderen Fluchtländern, in den Flüchtlingslagern der Herkunftsregion, oft auch im Herkunftsland selbst.
Tradition des Resettlements fehlt
Es liegt deshalb nahe, neben den Flüchtlingen, die sich nach Deutschland durchgeschlagen haben, auch große Kontingente von Flüchtlingen aus der Herkunftsregion gezielt nach Deutschland zu holen. Der UNHCR fordert das schon lange. Rund 10 Prozent der Flüchtlinge seien besonders schutzbedürftig und bräuchten ein sicheres Land für ein „Resettlement“, also eine Neuansiedelung.
Wenn auf diesem Weg pro Jahr zum Beispiel 100.000 weitere Flüchtlinge nach Deutschland kommen könnten, würde das die immer noch relativ große Aufnahmebereitschaft der Bevölkerungsmehrheit wohl nicht überfordern. Im Gegenteil könnte dies die Akzeptanz der Flüchtlingsaufnahme sogar erhöhen, weil es hier um besonders Schutzbedürftige geht und weil diese Schutzbedürftigkeit schon vor der Einreise geprüft würde.
Anders als in den USA, Kanada oder Schweden hat Deutschland keine Tradition des Resettlements, das heißt: der aktiven Aufnahme von Flüchtlingen. An den UNHCR-Programmen nimmt Deutschland erst seit 2012 teil. Derzeit hat die Bundesregierung aber nur die Aufnahme von 800 Menschen pro Jahr zugesagt. Daneben gab es noch ein nationales Aufnahmeprogramm für syrische Flüchtlinge. Zwischen 2013 und 2015 wurden so rund 20.000 Syrer nach Deutschland geholt. Dieses Programm ist beendet. Baden-Württemberg holte zudem rund 1.000 JesidInnen nach Deutschland.
Keine Alternative zum Asyl
Wann, wenn nicht jetzt – nach dem massivem Rückgang der Flüchtlingszahlen – wäre der richtige Moment, Deutschland zu einer großen Resettlement-Nation zu machen? Da kaum jemand mit einem so deutlichen Rückgang gerechnet hat, sind Einrichtungen der Flüchtlingsversorgung teilweise unausgelastet. Es ist wenig sinnvoll, wenn Kapazitäten jetzt abgebaut werden und bei der nächsten großen Flüchtlingswelle wieder fehlen.
Und doch setzt sich kaum jemand für zusätzliche Kontingente ein. Familienministerin Manuela Schwesig (SPD) war Ende September die letzte Spitzenpolitikerin, die sich so äußerte. Sie vertritt damit zwar die Parteilinie, doch sonst war aus der SPD zuletzt wenig zu hören. Vermutlich hat sie Angst, von der AfD und anderen Rassisten angegriffen zu werden.
Aber auch Grüne, Linke und Flüchtlingsinitiativen setzen sich kaum für Kontingente ein. Der Flüchtlingslobby gelten Kontingente vielmehr als verdächtig, weil Innenminister Thomas de Maizière (CDU) am liebsten die Flüchtlingsaufnahme ganz auf vorab geprüfte Kontingentflüchtlinge beschränken würde. De Maizières Ansatz ist aber nicht zwingend; Kontingente müssen keine Alternative zum Asyl für hier ankommende Flüchtlinge sein. Vielmehr lässt sich beides verbinden. Dabei wird und muss das klassische Asyl weiter zentrales Instrument des Flüchtlingsrechts bleiben, das folgt schon aus der Genfer Flüchtlingskonvention.
Wer Kontingente ablehnt, weil er gegen die CSU-Obergrenze ist und auch sonst gegen jede Begrenzung, macht es sich zu einfach. Zurzeit geht es nicht mehr um Begrenzung, denn die Begrenzung hat durch die Schließung der mazedonischen Grenze längst stattgefunden. Jetzt geht es um eine zielgenaue Ausweitung der Flüchtlingsaufnahme. Kontingente sind derzeit die einzige Chance für Flüchtlinge, die es nicht nach Europa schaffen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
„Männer“-Aussage von Angela Merkel
Endlich eine Erklärung für das Scheitern der Ampel