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Debatte EinsamkeitMit Würde allein sein

Dauerhafte Kontaktlosigkeit gilt heute als individuelles Scheitern. Als privates Schicksal. Diese Deutung zementiert die Isolation. Dabei gibt es Alternativen.

Vereinsamung ist eher selten individuell bedingt. Bild: dpa

V ereinsamen gilt als privates Schicksal. Es erfasst einen, weil man Pech hat, weil man auf die falschen Strategien in seinen Beziehungen setzt, weil man psychisch dazu prädisponiert ist, oder einfach, weil man Menschen nicht leiden kann. Das stimmt so nicht. Unsere Gesellschaft verteilt Kontaktchancen – wie Reichtum – ungleich. Es ist an der Zeit der Vereinsamung wieder kollektiv zu begreifen. Aber wie ist das möglich? Die Reflexion auf die Frage, wie Vereinsamung in unserer Gesellschaft eigentlich erzeugt wird, kann bei dieser Überlegung helfen.

Vereinsamung ist nicht nur ein gesellschaftliches Problem, weil Menschen an ihr leiden. Sie ist auch ein gesellschaftliches Problem, weil sie gesellschaftlich erzeugt wird. Je fortgeschrittener eine Gesellschaft in ihrer institutionellen und wirtschaftlichen Entwicklung ist, umso weniger Kontaktchancen zu Familie und Verwandten bietet sie. Die Nachbarschaften sind auf Grund der Berufsmobilität nur noch selten der Ort enger Freundschaften. Der soziale Kontakt findet immer häufiger vermittels technischer Hilfen statt. Prinzipiell hat unsere Gesellschaft die Tendenz, Kontaktchancen zu Nahpersonen zu verringern.

In der Nachkriegszeit traf die Einsamkeit diejenigen, die ihre Familienangehörigen und Freunde in den Konzentrationslagern, auf den Schlachtfeldern, im Bombenhagel oder in den Nachkriegswirren verloren hatten: also potenziell alle. Vereinsamung gehörte zum kollektiven Schicksal einer gescheiterten Gesellschaft.

privat
Janosch Schobin

ist Soziologe und arbeitet am Hamburger Institut für Sozialforschung. Auf dem taz Kongress wird er mit Astrid Osterland und Barbara Dribbusch Freundschaften als Alternative zur Familie diskutieren: „Die Liebe entzerren“.

Die einsamen Zurückgebliebenen

Das Wirtschaftswunder und die darauf folgenden Wohlstandsjahre brachten hingegen eine prädestinierte Trägergruppe der Einsamkeit hervor: die Aufsteiger und ihre Familien. Man vereinsamte, weil man auszog, um es zu etwas zu bringen, oder aber man vereinsamte, weil man zurückblieb. Auch die Erfahrung der Einsamkeit durch Aufstieg in der Bonner Republik war folglich ein Los, das sich noch kollektiv begreifen ließ.

Im Übergang von der Wachstumsgesellschaft zur Nullwachstumsgesellschaft verschwindet jedoch zusehends die Möglichkeit, das Vereinsamen als kollektives Schicksal zu verstehen. Auf Grund sozialstatistischer Erhebungen ist zu vermuten, dass Vereinsamung heute vornehmlich durch den Ausschluss von Arbeits- und Beziehungsmärkten erzeugt wird. Das Gefühl des Einsamseins häuft sich mittlerweile in einer disparaten Gruppe von Menschen, die sich nicht so recht zusammenbringen lassen: bei den Alten, Erwerbslosen und Alleinstehenden.

Vereinsamung ist, wenn sie kollektiv gedeutet werden kann, nicht zwangsläufig ein schmerzlicher Makel. Die Jungen, die in einer Zeit des Wachstums von der Provinz in die Ballungszentren ziehen, leiden zwar auch an ihrer Vereinsamung. Das Gefühl der Einsamkeit birgt aber auch eine große Chance. Das Abweisende der neuen Stadt schürt den Ehrgeiz. Sozialpsychologische Studien belegen: Noch in den 1950er und 1960er Jahren war das Wort „einsam“ positiv besetzt. Es verhieß, Gefahren und Widrigkeiten die Stirn zu bieten. Tatsächlich förderte die Zurückweisung durch die Etablierten häufig die Kreativität der Aufsteiger. Viele sogenannte 68er haben das vorgeführt.

Die Alten und die Jungen

Die Alten hingegen, die die jungen Aufsteiger zurücklassen, können sich als Generation begreifen, die sich für die Chancen der Jungen geopfert hat. Ihre Isolation ist der Preis, den sie für die Zukunft ihrer Kinder zahlen. Auch in diesem Los liegt Würde.

Das Modell aus dem Opfer der Vereinsamung Kraft für den sozialen Aufstieg zu gewinnen, kann in einer alternden, wirtschaftlich-dynamisch immobilen Gesellschaft nicht mehr kollektiv wirken. Im hyperrationalisierten Betrieb der deutschen Wirtschaft ist schon heute kaum Raum für den geregelten Aufstieg der Jungen. Im Regelfall ist es ungewiss, ob und wann man seine Chance bekommt. Sich auf Jahrzehnte in einen verbitterten Aufstiegskampf zu verbeißen, dabei in tausend Volten die eigene Innerlichkeit stets neu zu arrangieren und die eigenen Fertigkeiten neu zu justieren, führt schnell von der positiven Erfahrung der trotzigen Selbstschöpfung zur Erfahrung des Selbstverlusts.

Für diejenigen, die bereits vom Arbeitsleben oder den Partnermärkten ausgeschlossen sind, ergibt das Modell obendrein von vornherein keinen Sinn. Vereinsamung wird so mehr und mehr zur Erfahrung eines individuellen Stigmas und hört auf, das Bewusstsein eines kollektiven Opfers zu sein. Aber wie kann aus der neuen Situation Würde gezogen werden, wie kann die Vereinsamung wieder als Chance für das Ganze begriffen werden?

Neue Deutungsmuster

Es wäre vermessen, Patentrezepte liefern zu wollen. Wichtig erscheint aus soziologischer Warte die Einsicht, dass das würdevolle Erleben der Einsamkeit in den Bonner Jahren auf einem bestimmten Verhältnis der Jungen zu den Alten gegründet war. Klar ist jedoch: Das Selbstverständnis von der geopferten Generation trägt in den Jahrgängen geringer Geburtenzahlen und kleiner Aussichten nicht mehr weit. Dass dies nicht das einzige sinnvolle Modell ist, durch das sich die Alten auf die Jungen in einer Gesellschaft beziehen können, halte ich für ausgemacht.

Auch ist klar: Wir dürfen die Herausforderung einer alternden Gesellschaft nicht durch funktionale Arbeitsteilung lösen, weil sich dann weder das Los der Vereinzelung der Alten noch das der Jungen kollektiv begreifen lässt. Wir müssen neue kollektive Deutungsmuster finden, die es unseren Vereinsamten gestatten, sich dem Stigma des privaten Scheiterns zu entledigen. Dies würde den Vereinsamten wieder erlauben, würdig über ihren Alltag zu sprechen, weil es die Allgemeinheit beträfe und in dieser Entlastung läge schon eine enorme Befreiung.

Es wäre daher schon viel gewonnen, wenn die Vereinsamten unter den Alten, Alleinstehenden und Erwerbslosen begriffen, dass ihre Schicksale durch sehr ähnliche Exklusionsprozesse bedingt werden.

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9 Kommentare

 / 
  • JS
    Janosch Schobin

    @[Name Gelöscht] :

    Nimmt man die Kontakfrequenzen zum Anhaltspunkt für tatsächlichen Kontaktchancen ist die für Blödsinn gehaltene Aussage sehr wahrscheinlich richtig: Je "entwickelter" (gemessen an BIP, Lebenserwartung und durchschnittlicher Schulbesuchszeit), desto niedriger die Kontakfrequenzen - auch wenn man die Kontakte mittels Telekommunikationsmedien einschließt. Wenn der Zusammenhang zutrifft, dürfte bei uns die Kontaktfrequenz zu Nahpersonen abgenommen haben. Da es aber keine durchgängigen historischen Erhebungen mit vergleichbarer Methodik zu dieser Frage gibt, bleiben natürlich einige Zweifel bestehen...

  • K
    Kaleh

    Allein sein und sich einsam fühlen sind zwei verschiedene Dinge und unabhängig voneinander. Die Interpretation ist sicher gesellschaftlich bedingt, aber der individuelle Leidensdruck sehr unterschiedlich ebenso wie Strategien dafür oder dagegen.

  • H
    hto

    "Es ist an der Zeit der Vereinsamung wieder kollektiv zu begreifen. Aber wie ist das möglich?"

     

    Die URSACHE aller Probleme / Symptomatiken unseres "Zusammenlebens" in Überproduktion von konfusionierendem / entwürdigendem Kommunikationsmüll, ist der nun "freiheitliche" WETTBEWERB um die Begehrlich- und Abhängigkeiten der Hierarchie im "Recht des Stärkeren" - WIRKUNG in geistig-heilendem Selbst- und Massenbewußtsein, mit allen daraus einzig menschenwürdig resultierenden Konsequenzen / Möglichkeiten, nur wenn Wettbewerb KEINE MACHT mehr hat, über die Entwicklung eines teils logisch brutal-egoisierenden "Individualbewußtseins", über "Wer soll das bezahlen?" und "Arbeit macht frei", usw. - wenn GRUNDSÄTZLICH alles allen gehört, kann PRINZIPIELL alles wirklich-wahrhaftig ...!?

     

    Begreifen / Erkenntnis, nur wenn der Verstand für Vernunft in Wertigkeiten von EINDEUTIGER Wahrheit geregelt wird, anstatt gutbürgerlich-gebildete Suppenkaspermentalität auf stets zeitgeistlich-reformistischer Sündenbocksuche!!!

  • V
    vic

    Ich lebe allein. Ich wurde krank- zu krank um "mitzuziehen". Nun ist das eben so.

    Das ist nicht immer schön, aber auch nicht immer schlecht.

  • L
    Lucy

    Wenn jemand arbeitslos ist und / oder chronisch krank, ist er / sie wenig mobil, weil Mobilität Geld kostet. In den meisten Kommunen gibt es aber noch nicht mal ermäßigte Bus- oder S-Bahn-Tickets für Erwerbslose.

     

    Mobilität ist aber die Voraussetzung, um soziale Kontakte im real life zu pflegen. Der Ausschluss von Mobilität (und damit meist auch von Kulturveranstaltungen) ist ein schwerwiegender Eingriff in die Menschenwürde.

     

    Da nützt es rein gar nichts, wie der Autor im letzten Absatz schreibt, dass schon das Wissen um die gesellschaftlichen Exlusionsmechanismen Trost bietet. Helfen würde hier nur Sozialpolitik. Das kostet zwar, spart aber auf der anderen Seite Geld für Medikamente und ärztliche Behandlungen, z.B. von Depressionen, an denen Erwerbslose häufig erkranken.

     

    Es drängt sich der Verdacht auf, die Gesellschaft will gar keine Integration von "Randgruppen", besser sie bleiben, wo sie sind - im Abseits. Da kann man sich dann schön beschweren, die Menschen säßen ja den ganzen Tag nur vor dem Fernseher rum.

  • AT
    Angelika T.

    Vielen Dank mal wieder an die TAZ-Schreiber für den kritischen Quer-Blick.

    Ich gehöre auch zu den Einsamen und es kostet Kraft, sich gegen die Privatisierung gesellschaftlich erzeugter und politisch mindestens in Kauf genommener Zuschreibungen abzugrenzen.

    Es ist nur ein Mosaikstein im Gebilde.

    Die allgemeine Habgier, das verantwortungslose Treiben der Unternehmensberater und die vielfältig subventionierten Marionetten auf der politischen Bühne bewirken unsere schöne, neue Welt - die "seht zu wie ihr klar kommt - wir mischen uns da immer weniger ein"-Demokratie nach leuchtend amerikanischem Vorbild. Nein, nach amerikanischem Albtraum einer Nation, die an Käuflichkeit kaum zu überbieten ist.

    Die menschliche Arbeit wird laufend abgewertet, das einstige "Humankapital" zum Kostenfaktor ausgetrocknet, Arbeitssuchende und Hilfebedürftige zu Kunden ökonomisiert - eine Manövriermasse, mit der man hantieren kann.

    Das ist kurzsichtig und unwirtschaftlich, denn die Fehler im System - dass den Menschen nur noch benutzt, kommen das System letztlich teuer zu stehen.

  • W
    womue

    Wie soll das Darübersprechen vom "Stigma des privaten Scheiterns entledigen"? Das ist doch Unfug. Vom Stigma des Versagens heilt allein der Erfolg. Und wenn es ein anderer Erfolg in einer neuen Angelegenheit ist. Eine wichtige Rolle spielt freilich auch das Vergessen. Ich denke, wir leben in einer allgemeinen Kultur des Neids und des Mißtrauens, die um so empfindlicher wirken, je näher man einander steht. Da gibt es dann eben Leute, die halten das im Freundeskreis untereinander gut aus und können das auch managen. Anderen ist es unangenehm, sie fühlen zu stark, wie man sich fremd wird, und ziehen sich zurück, ohne nach Erklärungen zu suchen. Wie man sich halt vor Fremden zurückziehen würde, wenn man merkt, da stimmt irgendwas nicht.

  • D
    deviant

    "Was nun andererseits die Menschen gesellig macht ist ihre Unfähigkeit, die Einsamkeit, und in dieser sich selbst, zu ertragen."

     

    "Dem intellektuell hochstehenden Menschen gewährt nämlich die Einsamkeit einen zweifachen Vortheil: erstlich den, mit sich selber zu seyn, und zweitens den, nicht mit Anderen zu seyn."

     

    Parerga und Paralipomena, Aphorismen zur Lebensweisheit, Arthur Schopenhauer

  • NG
    [Name Gelöscht]

    "Der soziale Kontakt findet immer häufiger vermittels technischer Hilfen statt. Prinzipiell hat unsere Gesellschaft die Tendenz, Kontaktchancen zu Nahpersonen zu verringern."

     

    Die zweite Aussage im Zitat halte ich ehrlich gesagt für ziemlichen Unsinn. Es stimmt, dass der soziale Kontakt immer häufiger über technische Hilfsmittel stattfindet. Daraus nun aber den Schluss zu ziehen, die Gesellschaft würde die Kontaktchancen zu Nahpersonen verringern, ist doch Blödsinn. Niemand wird gezwungen, seine sozialen Kontakte über Internet und andere Medien zu halten. Diese blödsinnige Angewohnheit hat sich nur leider havarieartig verbreitet und alle machen mit. Viele vor allem junge Leute sind doch heute gar nicht mehr in der Lage, ein persönliches Gespräch zu führen oder über irgendwelche Internet-Kürzel hinaus einen geraden Satz zustande zu bringen. Stattdessen wird gesimst und gemailt und gechattet, was das Zeug hält, und hinterher wundert man sich, warum es zu Missverständnissen im zwischenmenschlichen Bereich kommt. Das alles ist jedoch nicht die Schuld der Gesellschaft und es ist auch nicht die Schuld der Medien, sondern da muss sich schon jeder selbst an die Nase fassen, der diese Art von "Kommunikation" betreibt.

     

    Darüber hinaus wäre zu definieren, was "Einsamkeit" überhaupt bedeutet. Meiner Meinung nach ist der einsam, der sich auch einsam fühlt. Das kann jemand, der in einem großen Verband von Menschen lebt, genauso sein wie jemand, der tatsächlich alleine lebt. Ebenso kann einem Mensch mit wenig sozialen Kontakten trotzdem das Gefühl von Einsamkeit fremd sein. Ich selbst bin überhaupt kein Herdentier, ich mag es gar nicht, viele Menschen um mich herum zu haben und ich habe sehr wenige Freunde, wobei mir aber auch dabei nichts fehlt. Insofern kann man - denke ich - das Problem nicht verallgemeinern, grundsätzlich mit gesellschaftlichen Gegenheiten erklären oder ähnliches, sondern man muss eben immer den jeweiligen Einzelfall und die jeweilige Lebensgeschichte eines Menschen betrachten.