Debatte Ein Jahr nach Keleti: Gebt den Haushalt frei!
Bananen verteilen am Bahnhof? Nein, danke. Aus dem missratenen Jahr des Willkommens sollten wir Schlüsse ziehen.
Vor einem Jahr, am 5. September 2015, hielt um 2.32 Uhr ein Bus, der auf einer ungarischen Autobahnraststätte gestartet war, im Transitbereich vor der österreichischen Grenzstation Nickelsdorf. Als die ersten 39 Flüchtenden ausstiegen, empfing ein Grenzpolizist diese Menschen mit Tränen in den Augen. „Das ist wie 1989“, sagte dieser Mann damals gerade noch hörbar vor sich hin.
Das war natürlich übertrieben. Und doch gibt es Momente im Leben, in denen jenen, die sie erleben, sofort klar ist, dass sie etwas Historisches bergen. Die Ankunft des Busses war für diesen Mann und, das lässt sich heute sagen, auch für die Europäische Union und die Bundesrepublik Deutschland ein solcher Moment.
Warum? Weil sich aus diesem Moment eine Korrektur der Geschichte hätte ergeben können. Eine Weile sah es ganz danach aus. Es scheiterte letztlich, weil die deutsche Bundesregierung Angst vor der Wahrheit bekam. Die Wahrheit lautet: Eine Willkommenskultur in einem humanen Europa lässt sich nicht nur predigen. Sie muss auch bezahlt werden.
Das zu erkämpfen ist nun unsere Aufgabe. Als Gesellschaft – und als Linke.
Jahrgang 1981, ist taz-Redakteur. Er berichtete Anfang September 2015 vom Budapester Bahnhof Keleti und begleitete in der Nacht des 5. Septembers 2015 den ersten Bus, der Flüchtende von ihrem Protestmarsch auf einer ungarischen Autobahn nach Österreich brachte. Seinen Text „Über die Grenzen” über seine Woche am Bahnhof Keleti finden Sie hier.
Wie ein Blick in den Spiegel
Der Morgen des 5. September 2015, als Stunden später schon Hunderte Menschen am Münchener Hauptbahnhof die Geflüchteten empfingen, war für Liberale und christlich-humanitär Geschulte wie eine Stunde vor dem Spiegel: Plötzlich strahlte sie etwas an, das nicht wie die Fratze eines Versprechens aussah, sondern wie ein schönes Gesicht von Europa, mit ganz humanen Zügen. Das war ein Bild von Europa, in dem die Ärmsten der Welt plötzlich sichtbar waren und nicht, wie so oft zuvor, ausradiert – wie es der schändliche Türkei-Deal später wieder bewirken sollte. Es lohnt sich auch heute, vielleicht mehr denn je, für dieses andere Bild von Europa zu kämpfen.
Allerdings hat das letzte Jahr auch gezeigt: Von der Bundesregierung ist dabei nichts zu erwarten. Sie delegierte die Probleme in die Türkei, verriegelte die Grenzen wieder und züchtet den neuen Extremismus, weil sie darauf hofft, dass unterbezahlte Kommunen und unbezahlte Freiwillige das leisten, was sie selbst leisten müsste: integrieren und am neuen Deutschland arbeiten.
Wir sollten uns ehrlich machen: Entweder wir verteilen weiter Bananen und gebrauchte Klamotten, geben Sprachunterricht in Hintertupfingen und Buxtehude – oder wir stellen eine entscheidende Frage. Das ist die Verteilungsfrage.
Dass heute vor einem Jahr, in den Stunden der Grenzöffnungen, eine riesige und doch unsichtbare Bürgerbewegung entstand, ist ein Verdienst der Bevölkerung. Ihre Protagonisten versammeln sich in Diakonien, Kirchen, Schulen, Heimen und Ämtern; sie machen nach außen hin nicht große Worte, aber bedeuten den Geflüchteten, denen sie helfen, die Welt. Heute ist es in Orten wie Gevelsberg in Nordrhein-Westfalen oder in Berlin-Pankow für Kommunalpolitiker eine selbstverständliche Aufgabe, in ihren Kommunen eine erlebbare Willkommenskultur zu etablieren.
Ihre Demut und Hingabe mag vornehm sein. Doch sie schont Sprücheklopfer vor ihrer politischen Verantwortung. Es geht nicht an, dass die Willkommens- und Integrationsarbeit von ehrenamtlichen Helfern und klammen Kommunen gestemmt werden soll und Parlamentarier in Berlin ihre Zeit damit verbringen, sich aus lauter Angst vor der AfD wahlweise von rechts abzugrenzen oder die Rechten rechts einholen zu wollen. Das ist nichts als Gequatsche. Gequatsche hilft nicht. Was hilft, ist Geld.
18,5 Milliarden Euro hat der deutsche Staat im ersten Halbjahr des Jahres 2016 an Überschüssen erwirtschaftet. Konservative Politiker, forsche Unternehmer und reaktionäre Gewerkschafter wollen, dass diese Milliarden zügig zurück an die Steuerzahler fließen. Das soll wohl bedeuten, dass die Reichsten, die zu Recht am meisten Steuern zahlten, auch am meisten zurückerhalten. Von wegen!
Mit diesem Geld sollten wir eine Party schmeißen – für Rechte. Es soll an die armen Abgehängten gehen, die in Heidenau, Clausnitz und Freiberg nichts abbekommen von dem stolzen Wohlstand, den dieses Land erwirtschaftet hat.
Ein humanistisches Sachsen
Mehr Geld für Rechte – soll das ein Witz sein? Nein. Der französische Soziologe Robert Castel schrieb einmal: „Das kollektive Ressentiment nährt sich aus einem Gefühl erlittenen Unrechts, das gesellschaftliche Gruppen empfinden, deren Status sich verschlechtert und die sich der Vorteile ihrer vorherigen Situation beraubt fühlen. Es ist eine kollektive Frustration, die nach Schuldigen oder Sündenböcken sucht.“
Dass ausgerechnet Rechtspopulisten und Rechtsextreme die vermeintlichen Anwälte der Armen geworden sind, hat Gründe. Wo es an politischer Bildung, gesellschaftlicher Teilhabe, an Arbeit und Wertgefühl mangelt – ja, was könnte dort wohl helfen? Wie soll denn das weitergehen, wenn etwa in jene fast verlorenen Gegenden des Ostens kein Geld fließt? Wie soll aus diesem ganzen Sachsen irgendwann einmal ein humanistisches Bundesland werden, wenn vielen dort das Geld für gescheite Literatur fehlt und ein Großteil der Kinder nicht in den Urlaub fahren kann? Und wo soll eigentlich das schöne Europa entstehen, wenn nicht in Sachsen?
Wenn wir – was wir auch tun sollten – darüber reden wollen, wie wir den nächsten Haushaltsüberschuss unter Geflüchteten verteilen, müssen wir zuerst über etwas anderes sprechen: die armen Deutschen. Nur wenn ihre Zukunft eine bessere ist, kann auch die Zukunft der Geflüchteten in Deutschland gut werden. Wenn Brot sicher ist und Arbeit, Rente, Würde.
Wer die Verteilungsfrage nicht stellt, wer nicht über die neue skandalöse Verschärfung der Hartz-Gängelungen redet, wer vom bedingungslosen Grundeinkommen schweigt und die Vermögensteuerdebatte meidet, kann – so einfach ist das letztlich – auch das Gerede von der Willkommenskultur vergessen. Das gilt nicht nur für die Politik. In diesem letzten Jahr, seit dem 5. September 2015, konnten wir eines lernen: Willkommenskultur kannst du nicht nur verschenken. Willkommenskultur musst du bezahlen.
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