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Debatte EU nach dem BrexitDas Gespenst im Schrank

Stefan Reinecke
Kommentar von Stefan Reinecke

Mit abwartender Mehrdeutigkeit kommt Angela Merkel dieses Mal nicht durch. Der Zerfall der EU ist erstmals im Bereich des Möglichen.

Augen zu und durch? Foto: ap

A ngela Merkels Reden klingen nach dem Austrittsvotum der Briten wie immer: intellektuell und emotional niedertourig. Ihre jüngste Regierungserklärung ist das übliche Kunststück der Mehrdeutigkeit. Die Kanzlerin hat offenbar keinen Plan. Das ist nicht unbedingt schlecht, denn Ziellosigkeit kann gerade in Krisen nützlich sein. Die Gefahr, sich zu verrennen, ist geringer, die Offenheit für Neues größer. Wer kein Ziel hat, kann nicht scheitern. Also: Merkel, die ruhige Maklerin – alles geht weiter wie bisher?

Eher nicht. Diese EU-Krise ist anders. Der Brexit ist womöglich das Wetterleuchten eines rechtspopulistischen Aufstands gegen eine Europäische Union, die schon vorher Risse hatte. In der Eurokrise setzte sich der Norden unter Merkels Führung rüde auf Kosten des Südens durch. Die Flüchtlingskrise erhellte schlaglichtartig, dass in Budapest und Warschau chauvinistische Regime regieren, mit denen eine postnationale Wertegemeinschaft kaum möglich ist.

Der Brexit hat nun erstmals das bislang Undenkbare, den Zerfall der EU, in den Bereich des Möglichen gerückt. Merkels Krisendiplomatie mag zunächst einmal beruhigen. Doch ein muddling through reicht in der gegenwärtigen Situation nicht aus. Was tun?

Natürlich müssen sich die Freunde der EU scharf gegen den Rechtspopulismus wehren. Die Rückkehr zu den Nationalstaaten bringt übelste Ressentiments gegen Fremde hervor und ist auch wirtschaftlich fatal.

Realität, keine Fantasie

Allerdings gibt es zwischen dem Rechtswähler, der sich in Sachsen von Flüchtlingsströmen überschwemmt sieht, und dem EU-Skeptiker, der 2017 den Front National wählen wird, einen Unterschied. Die Bedrohung des sächsischen Abendlandes existiert nur in den Angstfantasien paranoider Pegida-Anhänger. Diesem Rassismus ohne Fremde ist mit Argumenten nicht beizukommen.

Die Sache EU und Rechtspopulismus ist komplizierter. Wenn man das hypertrophe Getöse von Marine Le Pen und Nigel Farage abzieht, stellt man fest: Sie haben in einigen Punkten recht. Die EU ist keine Diktatur, wie die Rechten suggerieren. Aber EU-Bürger können eine Regierung in Brüssel nicht abwählen. Das ist Realität, keine Fantasie. Dieses Problem löst man nicht durch Britenbashing.

Das Gros der Gesetze wird mittlerweile aus Brüssel übernommen. De facto ist das eine Teilentmachtung der nationalen Parlamente. Das wäre keineswegs schlimm, wenn die Gesetzgebung in Brüssel mit soliden checks and balances funktionieren würde. Doch so ist es nicht. Das EU-Parlament ist nach wie vor schwach, die Exekutive so übermächtig wie sonst nur in autoritären Regime.

Merkel und Co sorgen pragmatisch dafür, dass letztlich immer mehr Befugnisse nach Brüssel wandern. Dies „stellt die Völker vor vollendete Tatsachen, zu denen sie sich keinen Willen bilden konnten und die sie deswegen als ihnen oktroyiert empfinden“. Das hat kein rechter Nationalist geschrieben, sondern der liberale Exverfassungsrichter Dieter Grimm.

Der Sauerstoff jeder Demokratie

Wenn die Eliten weiter so tun, als gäbe es in Brüssel kein Demokratiedefizit, wird das Gespenst im Schrank immer größer. Ohne grundlegende Reform wird die EU wohl früher oder später implodieren. Nötig ist eine Regierung, die die Bürger zwischen Lissabon und Posen bei Missfallen zum Teufel jagen können. Denn die Möglichkeit, die Herrschenden abwählen zu können, ist der Sauerstoff jeder Demokratie. Das Paradoxe ist, dass diese Reform die Regierungen der EU-Staaten ins Werk setzen müssten, die sich damit selbst entmachten würden.

Berlin ist nach dem Brexit in der EU mächtiger denn je. Es wäre klug, wenn Deutschland sich, wie früher unter Kohl, kleiner macht, als es ist, um Europa größer zu machen. Ob Merkel das sieht, ist nicht zu erkennen. Hat sie ein Ziel, wie die EU in zehn Jahren aussehen soll und wie sie für die Bürger von Athen bis Amsterdam demokratischer, zugänglicher, attraktiver wird? Falls nicht, wird auch das cleverste Krisenmanagement nichts nutzen.

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Stefan Reinecke
Korrespondent Parlamentsbüro
Stefan Reinecke arbeitet im Parlamentsbüro der taz mit den Schwerpunkten SPD und Linkspartei.
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21 Kommentare

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  • Was heißt Plan? Planwirtschaft? Die Wissenschaft analysiert die volkswirtschaftlichen Entwicklungen und entsprechend werden die Maßnahmen definiert. Meist eine Mischung aus Sparen und Investieren, fördern und fordern, verschlanken. Während sich Paketzusteller als Subunternehmer die Lunge aus dem Hals rennen, wird an anderer Stelle gemütliche Beamtenpause gemacht.

  • Man muss sich schon entscheiden, wohin die Reise gehen soll: Soll jedes Land innerhalb der EU seine Interessen verfolgen, dann stimmt es schon, ein parlamentsähnliches Gebilde in arbeitsfähiger Größenordnung nicht nach demokratischen Grundsätzen zusammengesetzt sein kann.

     

    Wenn ein echt demokratisch zusammengesetztes Parlament aber die Gesamtinteressen Europas vertreten soll, dann ist die nationale Zugehörigkeit der Abgeordneten so beliebig, wie in allen mehrsprachigen demokratischen Staaten. Die Sicherung der Nationalinteressen erfolgt dann sinnvollerweise über die Beteiligung einer zweiten Länderkammer an der Gesetzgebung.

     

    Wichtig ist aber, dass die Kompetenzen einer europäischen Regierung unter strikter Beachtung des Subsidiaritätsprinzips klar umrissen werden, sie wenigstens vom Parlament, besser daneben auch noch von den Bürgern selbst, jederzeit wieder abberufen werden kann und ausschließlich dem Parlament das Haushaltsrecht zusteht.

     

    Es muss ein Stufenplan her: Sollte sich erweisen, dass die EU nicht zu demokratisieren ist, dann ist es besser sie, anstatt zu zerfallen, auf den Stand vor 2000 zurückzuführen.

  • 1G
    1326 (Profil gelöscht)

    Die EU sollte anfangs Europa zu einer starken Wirtschaftsgemeinschaft machen. Find ich gut.

    Leider ist sie hinterher ein Monster geworden, das den Leuten vorschreiben will, welche Staubsauger, Gurken und Glühbirnen sie zu kaufen haben. Vielleicht auch noch, wie viel Lagen das Toilettenpapier haben muss?

    • @1326 (Profil gelöscht):

      Im Gegenteil: Die EU hat deutsche Vorschriften verschlankt. Z B musst ich früher zum TÜV, wenn ich eine Anhängerkupplung ans Auto gemacht habe. Nicht mehr nötig unter EU=Gesetzgebung.

  • "Nötig ist eine Regierung, die die Bürger zwischen Lissabon und Posen bei Missfallen zum Teufel jagen können." Posen??? Wo bin ich denn hier gelandet?

    • 5G
      571 (Profil gelöscht)
      @alma_matter:

      "Posen??? Wo bin ich denn hier gelandet?"

       

      In der Europäischen Union...

      • 3G
        33324 (Profil gelöscht)
        @571 (Profil gelöscht):

        Posen, im Poland.

  • Und was soll jetzt die konkrete Forderung sein?

     

    Um das europäische Parlament wenigstens innerhalb der EU-Staaten demokratisch zu machen und die Malteken wenigstens einen Sitz zu geben, müsste die BRD ungefähr 1200 Sitze da bekommen. In einem Europäischen Parlament, das wirklich demokratisch alle Europäer vertreten wären, dürfte nur noch Russland mit ähnlich vielen Sitzen aus dem europäischen Teil von Russland vertreten sein.

    Gemeinsame Wahllisten, die jeden staatlichen Nationalismus verhindern könnten, gehen schon nicht, weil nicht mal eine gemeinsame Amtssprache existiert.

     

    Ich möchte doch alle, die da jetzt so schnell den Brexit als Erfolg ausschließlich für rechte Politiker verkaufen wollen, mal bitten, mehr zu bieten als Phrasen.

  • Vielleicht ist die aktuelle Situation der EU nur das Wetterleuchten dessen, was mit CETA und TTIP rechtliche Realität werden soll. Mit CETA und TTIP überträgt die EU ihre eigenen staatsrechtliche Befugnisse auf eine privatrechtliche Gerichtsbarkeit transnationaler Konzerne. Langfristig schafft sich die EU damit selbst ab. Merkel ist massiv und entschieden für CETA und TTIP.

  • "Die Kanzlerin hat offenbar keinen Plan."

    Ja aber hat man denn in Washington auch keinen Rettungs- bzw. Zukunftsplan für die EU ? Die Kanzlerin hat doch sicher da schon nachgefragt . Seltsam .

    Wahrscheinlich liegt es daran , dass zu viele gravierende Probleme auf ein Mal unlösbar (geworden) sind . Wenn der EU-Laden darüber auseinander fliegt , ist der Rechtspopulismus auch nicht besser dran - er ist schließlich Teil vom Ganzen ... und hat auch keinen Plan . Von Nationalismus allein kann man sich kein Kotelet kaufen . It's economics ! Immer .

  • 3G
    33731 (Profil gelöscht)

    >>Der Brexit ist womöglich das Wetterleuchten eines rechtspopulistischen Aufstands gegen eine Europäische Union

     

    bullshit. die wahrscheinlichste deutung ist ein angriff der neolibs ala g.soros auf die EU. damit ist eine menge geld zu machen und laut j.nash ist die aufgabe jedes teilnehmers seine gewinnerwartung in jeder gegebenen situation zu maximnieren (vgl: adam curtis, the trap).

  • EU? Die Notenbank Projektion aller europäischen Interessen ist dem Primaten Fanatismus näher gerückt, als zu befürchten war. Damit macht sich EU selbst zum Wegwerfprodukt. Da sich EU weder als abwählbar noch als reformierbar etabliert, ist Wegwerfen eine formschöne Lösung. Wer will schon ein dümmliches Establishment von Steuerbetrügern und Scherzkanzlern an der Spitze Europas. Guter Rat, gut gemeint. 1 EU so wie es ist, konsequent wegwerfen. 2 Den Müll nicht recyclen, koste es was es wolle. 3 Der letzte Absatz im Artikel trifft genau den Punkt. Es gibt dieses Angebot.

  • 3G
    33324 (Profil gelöscht)

    Saubere Analyse. Stefan Reinecke spricht mir aus dem Herzen.

  • Das den Artikel präludierende Foto, das Merkel zeigt, ist vielsagend und repräsentativ.

    In der Tat scheint die Möglichkeit näher zurücken, dass die EU in ihrer jetzigen Form prozessweise implodiert. Denn man darf nicht vergessen: entgegen der einst idealistischen Version französischer und deutscher Politiker in den fünfziger Jahren, ist das heutige Europa fast nur Wirtschaft, Lobbyismus und Finanzen. Was bleibt für den Bürger? Er hat in diesem System zu funktionieren; und damit er bei Europa-Laune bleibt, erzählt man ihm verheissungsvolle Märchen vom "Vereinigten Europa", das irgend wann kommen soll. Sonst droht wieder Krieg oder gar, wie Merkel es mal sagte, das Ende Europas, sollte dem Euro der Exitus drohen. Und das Volk glaubt es anscheinend!

  • Merkels Flüchtlingspolitik hat widerwärtige nationalistische Untriebe provoziert, nicht nur in England, Frankreich und Österreich sondern sogar in ehemals freien Ländern wie Schweden.

     

    Das kann Europa in eine für unsere Nachkriegsgenerationen unvorstellbare Katastrophe führen.

     

    Vielleicht wäre eine Rückabwicklung von Merkels Fehler eine Notlösung, damit es nicht noch schlimmer wird und Ausländer in Deutschland wieder in Sicherheit leben können.

     

    Es würde auch die sozialen Spannungen und die Krise auf dem Wohnungsmarkt in den deutschen Grossstädten entschärfen, wenn die Million Flüchtlinge zurück nach Griechenland und Italien in Lager gebracht werden würde, bis der Krieg vorbei ist.

  • "Der Brexit ist womöglich das Wetterleuchten eines rechtspopulistischen Aufstands gegen eine Europäische Union, die schon vorher Risse hatte. In der Eurokrise setzte sich der Norden unter Merkels Führung rüde auf Kosten des Südens durch. Die Flüchtlingskrise erhellte schlaglichtartig, dass in Budapest und Warschau chauvinistische Regime regieren, mit denen eine postnationale Wertegemeinschaft kaum möglich ist."

     

    Die rechten Bewegungen bzw. politische Rechtsausrichtung einiger EU-Ländern wie Ungarn oder Polen führt ja dazu, dass solche Länder den Anderen nicht helfen wollen. Sie vertreten eigene vorwiegend wirtschaftliche Interessen. Unter solchen Umständen ist die Gemeinschaft also die Union gefährdet. Die Europäische Kommission muss Rechte, Werte, Normen und Verpflichtungen in der Europäischen Union noch stärker überwachen und noch konsequenter durchsetzen.

  • Ich kann der Analyse des Autors nur beipflichten. Mit Abwarten - wie es auch schon vor dem Brexit zelebriert wurde - wird wohl kaum verhindert werden, dass die EU sich zusehends auflöst. Die Strukturprobleme der EU müssen deshalb endlich auf den Tisch!

    • @mister-ede:

      Zerfall der Union? GB ist schon abschreckend genug: Das Pfund im Keller, die Firmen ziehen weg.

  • Können wir nicht mal eine europaweite Sammlung initiieren, um dieser Dame jetzt sechs bis neun Monate Urlaub zu spendieren? Diese Zeitspanne ohne das dilettantische Herumpolitisieren Merkels böte eine echte Chance zur Erholung der geschundenen EU.

    • 5G
      571 (Profil gelöscht)
      @Urmel:

      Hierzu ein Altkommentar:

      "KlausK

      25. Jun, 17:05

      Die EU hat schon lange zwei Probleme.

      Für das eine (demokratieferne Intransparenz) steht Brüssel, für das andere (angebliche Alternativlosigkeit) Berlin.

      Dass die 6 Außenminister der Gründerstaaten zusammenkamen, lässt auf eine Rückbesinnung auf die europäischen Werte und Visionen hoffen.

      Merkel sollte mal ein paar Wochen den Mund zu diesem Themenkomplex halten, von dem sie mMn nichts versteht."

      • @571 (Profil gelöscht):

        So ist es....