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Debatte Das SchlaglochDas Leben der anderen

Die Resignation der Zivilisation oder: Mein oberster Gattungsreferent bin ich selbst.

Kennen uns noch gar nicht und schießen schon mit Pfeil und Bogen auf uns! Drei Wochen alt ist nun das Bild dieser fremdenfeindlichen Amazonas-Urwald-Indianer, die auf ein Flugzeug zielten. Woher wissen die, dass es wohl besser ist, uns gar nicht erst zu begegnen, sich gar nicht erst von der Zivilisation erwischen zu lassen?

Kurz darauf entschuldigte sich die Regierung Kanadas bei ihrer indianischstämmigen Bevölkerung für die Zivilisierungsversuche der Vergangenheit. Über einhundert Jahre hinweg wurden Kinder indianischer Familien von den Eltern getrennt und in christlichen Schulen erzogen. Abgeschnitten von den Überlieferungen ihrer Völker, mit der Folge tiefer Haltlosigkeit und Ungewissheit über das Eigene. Noch vor kurzem wäre eine solche Entschuldigung undenkbar gewesen, wie auch unsere Kommentare zu den Urwald-Flugzeug-Attentätern mit dem Tenor: Wir sollten sie in Ruhe lassen. - Welch tiefgreifende Desillusionierung der Zivilisationsbringer über sich selbst hat da eingesetzt.

Letztlich hat es noch keinem Volk gutgetan, der zivilisatorischen Avantgarde zu begegnen, man kann das schon in den Reiseberichten des vorletzten Jahrhunderts nachlesen. Oder nehmen wir statt der unbesuchten Amazonas-Indianer die Ostdeutschen. Jörg Schönbohm, der Zivilisationsgeneral, hat gerade wieder Bilanz über den Stand der deutschen Einheit gezogen und etwas diagnostiziert, womit wir nie gerechnet hätten. Es gäbe, sagt Schönbohm, immer noch zwei deutsche Gesellschaften. Nach fast zwanzig Jahren!

Am letzten Donnerstag ist ein Dokumentarfilm in unseren Kinos angelaufen über eine zu Lebzeiten schon fast vergessene Schauspielerin Ost. Zur Premiere von "Ich will da sein. Jenny Gröllmann" stand eine lange Menschenschlange vorm Berliner Kino "International" bis fast auf die Straße. Das war die Parellelgesellschaft Ost.

Jeder weiß, ganz "vergessen" war Jenny Gröllmann zuletzt nicht, denn ein paar Monate vor ihrem Tod wurde sie gesamtdeutsch wiederentdeckt. Nicht als Schauspielerin, als IM. Das war im Frühjahr 2006, als der Film "Das Leben der Anderen" seinen Siegeszug antrat und Hauptdarsteller Ulrich Mühe über die Lebensnähe dieses Dramas sprach: Wie im Film die Frau des Schriftstellers, so sei auch seine Exfrau Jenny Gröllmann ohne sein Wissen Zuträgerin der Staatssicherheit gewesen. Im gleichen Sommer starb die krebskranke Frau, Ulrich Mühe im Sommer darauf. Das Berliner "International" war früher das Defa-Premierenkino, es war für manch einen Defa-Film schon bei der Premiere zu groß gewesen, und nun war es zu klein für die Uraufführung eines Dokumentarfilms.

Der "Fall" Jenny Gröllmann hatte die Deutschen auf Anhieb geteilt. Die deutsche Teilgesellschaft West glaubte an die IM-haftigkeit dieser Frau viel eher, schließlich hatte die Birthler-Behörde eine Akte gefunden. Und: Aufarbeitung tut not!

Einer der ältesten Stasifälle ist Gregor Gysi. Seit nunmehr fast zwanzig Jahren wird er in regelmäßigen Abständen als IM entlarvt, gerade eben wieder, und sofort war das Ost-West-Schisma wieder da. Die Teilgesellschaft Ost fand vor allem Rhythmus und Zeitpunkt auffällig: Schon wieder und gerade jetzt, wo die SPD weder aus noch ein weiß?

1984 hatte im Berliner "International" der Defa-Film "Hälfte des Lebens" mit Ulrich Mühe und Jenny Gröllmann Premiere. Er handelte von Friedrich Hölderlin, dem deutschen Dichter: "… Ich kann kein Volk mir denken, das zerrißner wäre, wie die Deutschen." Hölderlins Befund: "Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen … ach, wenn sie doch bescheidener wären, diese Menschen!" Es war seltsam, in Petra Weisenburgers Dokumentation, die keinen Augenblick an den IM Gröllmann glaubt, Mühe/Hölderlin diese Sätze sagen zu hören. Natürlich zählten die Dichter schon immer zu den nächsten Verwandten der Seher. Es gibt auch noch einen dritten aktuellen Ost-West-Graben, den neuen Berliner Opernstreit. Die Oper als solche ist, vom Amazonas aus gesehen, eine spätkulturelle Einrichtung und nur vermeintlich ost-west-neutral.

1955 wurde der im Krieg zerstörte Zuschauersaal der Staatsoper Unter den Linden neu errichtet, nach dem Entwurf des Bauhausarchitekten Richard Paulick. Der hatte allerdings keinen Bauhaussaal geschaffen, sondern einen, der sich den ursprünglichen Innenraum des friderizianischen Opernhauses zum Vorbild nahm. Das war angewandter Hölderlin, das war praktizierte historische Bescheidenheit - und gerade die war nicht unbedingt die erste aller Bauhaustugenden. Denn modern sein, heißt vor allem vorsätzlich unbescheiden sein! - Eigentlich, dachte man, kann dem Saal bei der jetzt anstehenden Sanierung nichts geschehen, er steht unter Denkmalschutz. Aber er hat einen schweren Fehler: Er ist von 1955. Das macht ihn verdächtig, denn das war noch tief in der DDR, und der Generaldirektor der Opernstiftung sieht in der eventuellen Erhaltung des Saals einen späten Triumph des SED-Regimes: "Mit der Wiederherstellung dessen, was preußisches Bauerbe war, wollte sich die DDR als Nachfolger einer Nationalgeschichte inszenieren." Und weiter: "Wer in diesem Kontext singt, musiziert oder inszeniert, hat keinen gattungsgeschichtlichen Referenten."

Liebes Urvolk vom Amazonas! Du hast dich mit Pfeil und Bogen gegen die Suche nach deinen gattungsgeschichtlichen Referenten entschieden, das ist gut so. Sei nur immer dein eigener Referent und lies Hölderlin! Er hat zwar nicht einmal den beiden Hauptdarstellern seines eigenen Films helfen können, auch nicht den Deutschen, die er so gut kannte. Das Beste an der ganzen Zivilisation, die du so gern abschießen möchtest, sind trotzdem ihre Dichter. Das Problem bei der Höherentwicklung ist nämlich: Zuallererst verliert man seine eigene Sprache. Also das Medium, in dem deine Überlieferung wahr sein kann. Am Ende redest du noch wie Stefan Rosinski. Das ist der Direktor der Berliner Opernstiftung. Darum gibt es die Dichter, die müssen das ganze Zivilisationskauderwelsch immer zurückübersetzen. Du kannst noch nicht wissen, was Zeit ist, vierzig Jahre jedenfalls sind sehr wenig. So lange haben die beiden Deutschländer getrennt gelebt, und schon haben sie ein akutes Übersetzungsproblem. Das liegt am gattungsgeschichtlichen Referenten. Als sie noch zusammen waren, haben sie beide ganz böse Erfahrungen auf der Suche nach ihm gemacht. Und die Welt auch. Das Westvolk glaubt seitdem, sein Gattungsreferent sei die Demokratie. Das Ostvolk hat noch mal falsch gesucht und manch Einzelner denkt seitdem genau wie du: Mein oberster Gattungsreferent bin ich selbst! Zuerst traue ich meinen Erfahrungen und erst dann der Birthler-Behörde. Wenn zum Beispiel eine Person im wirklichen Leben ganz anders spricht als in den Akten, muss ich dann glauben, dass beide identisch sind? Am besten also, liebes kluges Urvolk, man hat erst gar keine Akten!

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2 Kommentare

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  • A
    anke

    Hab ich das jetzt richtig verstanden? Wer sich selbst unter Anwendung von etwas inszeniert, der hat nach Ansicht von Stefan Rosinski keinerlei Anrecht darauf, tatsächlich einen Bezug zu diesem Etwas zu behaupten. Hm. Dann möchte ich für den Generaldirektor der Opernstiftung aber schwer hoffen, dass es nie die Oper sein möge, mittels derer er die eigene Person in Szene setzt. So ganz ohne jeden Bezug nämlich stelle ich mir das Führen einer Stiftung verdammt schwierig vor.

     

    Gut, dass ich kaum je zuhöre, wenn Leute wie Stefan Rosinski das Wort schwingen. Ich fürchte, ich hätte im Ergebnis derartiger Erlebnisse zwar nicht das Bedürfnis, mit Pfeil und Bogen auf Hubschrauber, wohl aber mit Kanonen auf Spatzen zu schießen.

  • AM
    andreas mühe

    Ein toller Artikel ! Dankeschön !