Debatte Balkan: Der albanische Traum
Die Albaner streben noch heute eine grenzüberschreitende Vereinigung an. Für die Balkanregion ein gefährliches Unterfangen.
J edes Jahr, wenn die albanischen Minderheiten in Serbien, Montenegro und Mazedonien Ende November den Tag der albanischen Fahne zelebrieren, knirschen Serben, Mazedonier, Montenegriner und Griechen mit den Zähnen. Jedes Mal ist das aus der Sicht der slawisch-orthodoxen Völker des Balkans eine bösartige nationale Machtdemonstration. Denn dieser Nationalfeiertag Albaniens ist ein Symbol der nationalen Einheit der rund sechs Millionen Albaner geworden, die verstreut in den Nachbarstaaten leben.
In diesem Jahr feierten Albaner in der ganzen Region am 28. November 100 Jahre der Unabhängigkeit Albaniens. Das Spektakel war beeindruckend. In Albanien und im Kosovo, in Westmazedonien und der mazedonischen Hauptstadt Skopje, in Südserbien und im Osten Montenegros stand alles im Zeichen der roten albanischen Fahne mit dem schwarzen Adler.
Der 28. November ist das wichtigste Datum der albanischen Geschichte. Am 28. November 1443 wurde zum ersten Mal die albanische Flagge gehisst. Deshalb trat 1912 am 28. November in der Stadt Vlore ein albanischer Nationalkongress zusammen und proklamierte die Unabhängigkeit Albaniens. Vorher hatte die 1878 gegründete Liga von Prizren vergeblich vom Berliner Kongress eine weitreichende Autonomie für die mehrheitlich von Albanern bewohnten Territorien gefordert.
Nach zwei Balkankriegen (1912 und 1913) und der Friedenskonferenz nach dem Ersten Weltkrieg umfasste der Staat Albanien jedoch kaum die Hälfte der von Albanern besiedelten Gebiete, die im Laufe der jahrhundertelangen Herrschaft der Osmanen in großer Mehrheit zum Islam konvertiert waren. Die Albaner waren auf verschiedene Staaten aufgeteilt.
Wofür ihr Herz schlägt
Auch in diesem Jahr demonstrierten die Albaner, wofür ihr Herz schlägt: nicht für die Staaten, in denen sie leben und dessen Staatsbürgerschaft sie haben, sondern für das Zusammenleben des albanischen Volkes auf dem Balkan ohne Grenzen. Die Botschaft war unmissverständlich.
ist Serbien-Korrespondent der taz.
Anlässlich des Jahrestages versprach Ministerpräsident Sali Berisha: „Alle Albaner, die die albanische Staatsbürgerschaft erwerben wollen, werden sie bekommen, egal wo sie leben.“ Die Regierung in Tirana werde ein entsprechendes Gesetz vorbereiten. Und weiter: „Verstreut in verschiedenen Staaten, sehen sich die Albaner als Brüder durch gemeinsame Gene, Kultur und Identität, vereint durch ihren Traum von Europa.“
Die Albaner kämpften gegen eine „Albanophobie“, die nur durch einen albanischen „Einigungsprozess“ gebannt werden könne. Das Motto: „Alle vereint im Schoße Europas“. Die Albaner „von Preveza bis Presevo, von Skopje bis Podgorica“, an die sich Berisha wandte, jubelten. In Athen, Skopje und Belgrad sah man sich bedroht.
Der Premier Albaniens, Berisha, der Regierungschef des Kosovos, Hashim Thaci, sowie Vertreter der Albaner in Mazedonien betonen, dass die Vereinigung der Albaner „in den Grenzen der EU“ vollbracht werden soll. Während man in Mazedonien und Serbien das berüchtigte „Großalbanien“ wittert, meint der „ethnisch neutrale“ kroatische Politologe Zarko Puhovski, dass „Großalbanien“ eigentlich serbische Propaganda sei.
Denn Albanien befinde sich heute am Rande der europäischen Integrationsprozesse, und deshalb sei das großalbanische Projekt nicht realistisch. Aus Brüssel und Washington wird lapidar mitgeteilt, dass eine Grenzänderung auf dem Balkan nicht infrage komme. Diese schloss Europa allerdings auch schon 1991 aus, angesichts des Bürgerkrieges im ehemaligen Jugoslawien.
Wiedersehen in Europa?
Doch was wird geschehen, wenn der „Schoß Europas“ nicht länger aufnahmefähig ist? Werden die Albaner im ärmsten Teil Europas auf das Projekt der nationalen Vereinigungen im Rahmen der EU verzichten, wenn es sich herausstellt, dass nichts aus der EU-Integration der Staaten des Westbalkans wird? Auf eine friedliche Vereinigung der Albaner zu wetten, das hieße, auf die Erweiterung der EU in absehbarer Zeit zu setzen.
Die Hoffnung auf einen EU-Beitritt aufrechterhalten, so lautete die Zauberformel der EU für die Staaten des Balkans. Allein ihr – immer noch – magischer Bann zwingt die politischen Eliten zu Kompromissen. Doch das wird bald nicht mehr reichen.
Brüssel will Ordnung und Frieden auf dem Balkan. Das Kosovo möchte das Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen mit der Union unterzeichnen, Serbien und Mazedonien streben den Beginn von Beitrittsverhandlungen an, Albanien hofft auf den Status des Beitrittskandidaten.
Wettlauf mit der Zeit
Der Versöhnungsprozess auf dem Balkan ist jedoch ein Wettlauf gegen die Zeit. Unter dem starken und lang anhaltenden Druck der sozialen und wirtschaftlichen Misere wollen die Kriegswunden nicht verheilen, von Vergangenheitsbewältigung kann keine Rede sein, die EU verliert an Glaubwürdigkeit, und somit erlischt auch allmählich die Hoffnung auf ein besseres Leben. Die Arbeitslosigkeit in den Staaten, in denen Albaner auf dem Balkan leben, beträgt zwischen über 30 und über 50 Prozent mit negativem Trend. Albaner sind die jüngste Population Europas, und junge Menschen neigen zur Ungeduld. Auf allen Seiten lauern extremistische Gruppen. Im immer größeren Elend wittern sie ihre Chance. Je größer die Not, desto stärker der Bann der einstigen, nie verblassten Feindbilder.
Mit dem Zerfall des ehemaligen Jugoslawiens fanden sich Serben, ganz so wie Albaner, plötzlich verstreut auf viele Staaten. Das großserbische Projekt lautete: Alle Serben gehören in einen Staat. Der Krieg um Territorien und um nationale Souveränität begann. Letztendlich befand sich Serbien 1999 in einem Krieg gegen die Nato. Das Ergebnis der Idee: ein serbenfreies Kroatien, ein (fast) von Serben ethnisch gesäubertes Kosovo, das sich von Belgrad loslöste, und als Trost für serbische Nationalisten eine serbische Verwaltungseinheit in Bosnien mit Elementen der Eigenstaatlichkeit.
Optimisten würden sagen: Auf Wiedersehen in Europa. Dagegen lässt sich sagen: Man lebte schon ohne Grenzen in Jugoslawien – bevor die Toten und Vertriebenen auf allen Seiten die Kluft noch mehr vertieften.
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