Debatte Armutsmigration: Das schlechte Gewissen
In Deutschland wird überzogen auf die Zuwanderer aus dem östlichen Europa reagiert. Nur wenige von ihnen beziehen übrigens Hartz IV.
N ur mal so eine Idee: Anti-Werbespots für Deutschland werden in Rumänien und Bulgarien im Fernsehen gezeigt. Man sieht zugewanderte Rumänen und Bulgaren, die hierzulande in Abbruchhäusern mit kaputten Heizungen frieren. Die in Jobcentern Sachbearbeitern begegnen, die abweisend den Kopf schütteln. Die im Regen in langen Schlangen vor den Notaufnahmen der Krankenhäuser stehen. Dazu dann der Text: „Deutschland – ein kaltes Land. Das Leben dort ist hart“.
Vielleicht könnte man die Anti-Deutschland-Werbespots abschließen mit romantischen Bildern der Karpaten oder des Schwarzen Meers: „Eure Heimat ist doch so schön.“ Was zynisch klingt, wurde in Großbritannien zumindest erwogen, wie die britische Zeitung Guardian schrieb. Dort dachten Politiker laut darüber nach, wie man eine Art Negativkampagne gegen Großbritannien in Bulgarien und Rumänien platzieren könnte, um die EU-Zuwanderer davon abzuhalten, auf die Regeninsel zu kommen.
Die Angst vor der „Armutszuwanderung“ aus den südosteuropäischen EU-Ländern wächst auch hierzulande. Dies muss dringend politisch moderiert werden. Denn inzwischen werden Zahlen, Vermutungen und Mythen in die Welt gesetzt, die mit der Wirklichkeit nur noch begrenzt zu tun haben.
Barbara Dribbusch ist Redakteurin für Sozialpolitik im Inlandsressort der taz. Zuletzt erschien von ihr das Buch "Älterwerden ist viel schöner, als Sie vorhin in der Umkleidekabine noch dachten" (Mosaik).
Unterm Strich sind im Jahre 2011 nur 58.000 Zuwanderer aus Rumänien und Bulgarien nach Deutschland gekommen, Kinder mit eingerechnet. Rumänen sind etwa in den vergangenen Jahren in sehr viel größerer Zahl nach Italien migriert, allein schon wegen des wärmeren Klimas dort und der sprachlichen Ähnlichkeiten.
Nur bestimmte Straßenzüge sind betroffen
Es ist auch nicht anzunehmen, dass der überwiegende Teil der Zugewanderten aus Bulgarien und Rumänien Roma oder Sinti sind. In Rumänien und Bulgarien selbst liegt der Anteil der Roma und Sinti an der Bevölkerung zwischen drei bis vier Prozent, sagt Herbert Brücker, Migrationsexperte am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg. Bei der ethnischen Bestimmung wird auf Selbstauskünfte der Leute zurückgegriffen, amtliche Definitionen dazu gibt es in Deutschland nicht.
Bei näherer Betrachtung wirken die Zahlen auch sonst überschaubar. So verzeichnet Berlin-Neukölln für den Juni 2012 rund 4.500 gemeldete Rumänen und Bulgaren im Bezirk, Kinder inbegriffen. Davon bezieht die Mehrzahl keine Hartz-IV-Leistungen. Neukölln hat übrigens 316.000 Einwohner. Wo also ist das Problem?
Das Problem liegt in der Ballung von Belastungen in bestimmten Straßenzügen, vor allem aber in den Ängsten, was da noch kommen könnte an Armutszuwanderung. Ab 1. Januar 2014 können Bulgaren und Rumänen in Deutschland legal arbeiten und damit auch etwa bei einem Minijob ergänzende Hartz-IV-Leistungen beziehen. Es ist aber unwahrscheinlich, dass es zu einer massiven Einwanderung ins Hartz-System kommt, da ja eine Erwerbstätigkeit Voraussetzung ist.
Das eingewanderte Elend
Für die Polen herrscht schon seit Mai 2011 Arbeitnehmer-Freizügigkeit. Die Zahl der polnischen ArbeitnehmerInnen hierzulande ist steil nach oben gegangen, die der polnischen Hartz-IV-Bezieher stieg hingegen nur vergleichsweise bescheiden an. Trotzdem bleibt die Angst vor der „Armutsmigration“. Denn es sind vor allem die Elendsbilder, die schon kleine Fallzahlen so bedrohlich wirken lassen.
Durch die Zugezogenen sieht man in Deutschland plötzlich mit eigenen Augen, welches gigantische Wohlstandsgefälle in der EU herrscht. Es kommen EU-Bürger, die hier in Obdachlosenunterkünften oder in Abbruchhäusern leben, in die hiesige Hartz-IV-Empfänger nicht einziehen würden. Vielköpfige Familien ohne Krankenversicherung, für die der Bezug von ein paar Hundert Euro Kindergeld schon ein Wohlstandsgewinn ist.
Wenn die Superarmen aus der EU so nahe rücken, wachsen bei den hier Ansässigen Verlustängste und Schuldgefühle. Dabei wird ein bisschen Wohlstandsgefälle in der EU ansonsten als komfortabel empfunden. Schließlich profitieren hierzulande Tausende Privathaushalte von billigen polnischen Reinigungs- und Pflegekräften.
Doch der Anblick der Superarmen ist etwas anderes. Wenn Menschen auf dem Bürgersteig knien und die Hände bettelnd heben und Frauen mit Babys vor der Brust die Vorbeieilenden mit leidendem Blick anschauen, dann nervt diese Ikonografie des Bittens und Bettelns. Man fühlt sich manipuliert durch so viel Demutsgesten. Sie berühren aber auch unser Gewissen.
Hysterische Stadtverwaltung
Die Konfrontation mit diesen zwiespältigen Gefühlen verstärkt den Wunsch nach Abgrenzung. Diesen Wunsch muss man respektieren. Erst recht, wenn er von Leuten kommt, die schon in sogenannten Problemvierteln leben und instabile Nachbarschaften fürchten, weil Besitzer von Abbruchhäusern ihre Räume zu Wuchermieten an Zuwanderer vermieten.
Im sogenannten Roma-Statusbericht von Berlin-Neukölln schreiben die Autoren, dass türkische und arabische Jugendliche sich in Jugendprojekten abgrenzen, wenn junge Roma dort auftauchen. Allerdings gibt es auch Systeme der Ausbeutung am unteren Rand, wenn türkischstämmige Zuwanderer aus Bulgarien an hiesige Hartz-IV-Bezieher saftige Gebühren für private Übersetzer- und Vermittlerdienste zahlen.
Die Belastungen durch obdachlose EU-Zuwanderer dürfen nicht nur in bestimmten Nachbarschaften belassen werden. Es ist richtig, wenn der Deutsche Städtetag für haushaltsmäßig klamme und besonders betroffene Kommunen wie Dortmund, Duisburg oder Berlin-Neukölln mehr Hilfe von den Länderregierungen und vom Bund fordert. Die Städte wollen Geld für die Beschulung und einen Gesundheitsfonds, um Nothilfe leisten zu können.
Es muss mehr Sanktionsmöglichkeiten gegen die überteuerte Vermietung von Schrottimmobilien geben. Doch der Wunsch der Städte, die Einreise aus der südöstlichen EU wieder zu blockieren, geht zu weit. Wir müssen bereit sein, mehr Fremdheit im eigenen Land zu akzeptieren, inklusive des unbehaglichen Gefühls, das uns beschleicht, wenn wir uns durch die Augen der Superarmen selbst betrachten.
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