Debatte Armenien: Vergiftung der Begriffe
Frankreichs Genozid-Gesetz ist von großer Tragweite. Der Staat hat nicht die Aufgabe, historische Wahrheiten festzuschreiben. Sarkozys Populismus hat Folgen.
A m 22. Dezember 2011 verabschiedete die Nationalversammlung in Paris ein Gesetz, das jene mit Strafe von zwölf Monaten Gefängnis oder bis zu 45.000 Euro Buße bedroht, "die einen von Frankreich anerkannten Völkermord bestreiten oder auf überspitzte Art verharmlosen". Am 23. Januar 2012 stimmte auch der Senat dem Gesetz zu.
Als Völkermord anerkannt sind in Frankreich seit 1990 beziehungsweise 2001 die Vernichtung der Juden und der Massenmord an den Armeniern 1915. Das Gesetz wirft zwei Probleme auf - ein politisches und ein grundsätzliches. Politisch liegen die Dinge einfach: Das Gesetz wie der Zeitpunkt seiner Verabschiedung sind Teil von Sarkozys Wahlkampf, in dem es um die 500.000 Stimmen der aus Armenien stammenden Wähler bei den Präsidentschaftswahlen geht. Dieses Kalkül interessiert hier nicht weiter.
Grundsätzlich hat das Gesetz eine weitere Dimension und ist von großer Tragweite. Es geht um das Verhältnis von Geschichte, Politik und Justiz. Jenseits des Wahlkampfs treffen zwei Positionen aufeinander, die sich - was das Verhältnis von Geschichte, Politik und Justiz betrifft - spiegelverkehrt gegenüberstehen: Türkische Regierungen leugnen seit 80 Jahren die Vernichtung der Armenier und stellen Äußerungen dazu unter Strafe. In Frankreich dagegen soll mit dem Gesetz die Leugnung der Vernichtung bestraft werden.
ist freier Publizist und lebt in Frankfurt am Main. 2011 erschien im Oktober Verlag der erste Sammelband mit seinen Essays, Kommentaren und Glossen: "Aufgreifen, begreifen, angreifen".
Aus Historikern werden Richter
Daraus ergeben sich fünf Probleme. Erstens: Außer den für alle geltenden Gesetzen unterliegen Historiker keinen gesetzlichen Vorgaben, sondern nur den methodischen Regeln nach dem Stand der Wissenschaft. Historiker sind keine Richter, sie verkünden - anders als diese - keine Urteile auf der Basis gesetzlicher Normen, sondern präsentieren Erkenntnisse ihrer Arbeit, die permanenter Fachkritik ausgesetzt sind und durch neue Erkenntnisse überholt werden können. Mit der Unterwerfung der Historiker unter politische Vorgaben und Strafandrohungen wird wissenschaftliche Arbeit "tribunalisiert", das heißt der richterlichen Tätigkeit angenähert.
Im Extremfall kann dies dazu führen, dass eine Opfer- oder Tätergruppe, die sich von Historikern schlecht dargestellt fühlt, diese vor Gericht ziehen kann, sobald Frankreich weitere Verbrechen als Genozide anerkennt wie die UNO jene der Roten Khmer in Kambodscha (1979) oder die der Hutu in Ruanda (1994). Mit geschickter Lobbyarbeit kann so jede Opfer- oder Tätergruppe daran arbeiten, dass Teile ihrer Geschichte ihren besonderen Erinnerungsansprüchen unterworfen und staatlichem Schutz unterstellt werden. Partikulare Opferinteressen dirigierten damit die historische Forschung.
Das ist keine schwarze Utopie. In Litauen und Ungarn muss bereits mit Gefängnis rechnen, wer das Verhalten der sowjetischen Besatzer nicht als ausschließlich verbrecherisch darstellt. Indianerstämme in den USA streben das Gleiche an.
Und der Holocaust?
Zweitens: Der Straftatbestand Verbrechen gegen die Menschlichkeit wurde bei den Nürnberger Prozessen 1945 geschaffen und ist ins Völkerrecht eingegangen. Die Begriffe Völkermord oder Genozid, seit 1948 Begriffe des Völkerrechts, haben trotzdem "eine magische Aura" - so der Historiker Pierre Nora, der sich intensiv mit Erinnerungskulturen beschäftigt hat.
Wie viele Historiker plädiert er dafür, statt dieser Wörter etwa Vernichtung, Ausrottung oder Massenverbrechen zu verwenden, die weniger "emotional, politisch und ideologisch" kontaminiert seien. Es ist genau diese Kontamination der Begriffe, die - je nach Bedarf - der Sakralisierung oder Banalisierung von historischen Verbrechen Vorschub leisten. Die Sakralisierung wie auch die Banalisierung stehen der historischen Aufklärung aber im Weg.
Drittens: Die Verteidigung des Gesetzes gegen die Leugnung des Massenmords an den Armeniern verdankt sich dem Vergleich mit der Ausrottung der europäischen Juden. Dieser Vergleich trägt nicht, denn Frankreich hat weder mit den Opfern des Verbrechens noch mit den Tätern auch nur das Geringste zu tun. Fast hundert Jahre nach dem Verbrechen sind weder eine historische noch eine juristische Verantwortung Frankreichs oder von Franzosen auszumachen. Dieses Argument hat nichts mit der berüchtigten Schlussstrichmentalität zu tun, denn im Unterschied zu den nachgeborenen Deutschen für den Massenmord an den Juden haben Franzosen für die Vernichtung der Armenier keine politisch-moralisch zu begründende Verantwortung.
Viertens: Aus juristischer Sicht bezweifelt der ehemalige französische Justizminister Robert Badinter die verfassungsmäßige Zuständigkeit der französischen Legislative für ein Gesetz zu den geschichtlichen Vorgängen in Armenien und im Osmanischen Reich 1915 ebenso wie die Kompetenz des Parlaments, "offizielle historische Wahrheiten" zu verkünden. Der Conseil Constitutionnel - der als Verfassungsgericht fungierende, politisch zusammengesetzte Verfassungsrat - wird darüber entscheiden, ob die Meinungs- und Forschungsfreiheit eingeschränkt werden darf.
Geschichte gehört allen
Fünftens: Auch politisch und moralisch gesehen, hat der Staat nicht die Aufgabe, historische Wahrheiten festzuschreiben, wohl aber dafür zu sorgen, dass die Erinnerung an die Opfer durch Erziehung und andere geeignete Mittel gepflegt wird.
Der Versuch, dieser Aufgabe durch gesetzliche Deklaration historischer Wahrheiten nachzuhelfen, beruht auf einer Verwechslung beziehungsweise Identifizierung von Geschichte und Erinnerung. Geschichte ist keine frei verfügbare Vergangenheit, sondern eine irreversibel vergangene Masse Zeit und ein allen gehörendes Erbe. Dieses bleibt dem politischen Zugriff - im Prinzip - entzogen, trotz der Rosstäuscherparole "Geschichtspolitik".
Erinnerung dagegen bezieht sich auf subjektive Erfahrungen - auf Empathie und Anerkennung, Kritik oder Verachtung von Spätgeborenen für Vorfahren und deren Erfahrungen. Nur Erinnerungen sind verfügbar für Individuen und soziale Gruppen - also auch für Erinnerungspolitik.
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