Debatte Afrikas Einheit: Befreiung von der Utopie

In Politik und Sport wird die afrikanische Einheit beschworen. Doch dieses Wir-Gefühl wird brüchig. Und das ist eine gute Nachricht.

Die Geschichte des modernen Afrika wurde mit Blut geschrieben. Millionen Afrikaner kamen im Freiheitskampf gegen Kolonialismus und Apartheid ums Leben, tiefe Wunden von damals prägen bis heute viele Gesellschaften. Gemeinsam Rassismus und Fremdherrschaft zu überwinden hat zugleich den Kontinent zusammengeschmiedet und ein gesamtafrikanisches Bewusstsein geschaffen.

So lautet der Gründungsmythos des neuen Afrika, das sich in der internationalen Politik immer stärker bemerkbar macht. Afrikanische Politiker fordern für den Kontinent einen Platz an der Sonne, verlangen ein Ende von Benachteiligungen und kalkulieren Milliardensummen als gerechten Ausgleich für vergangenes und zukünftiges Leid. Die Afrikanische Union ist der politische Ausdruck dieses Selbstbewusstseins, die afrikanische Weltmusik ihr kulturelles Äquivalent, und auf der Fußball-WM in Südafrika dieses Jahr will sich das neue Afrika global feiern lassen.

Zugleich dümpelt die Afrikanische Union vor sich hin, afrikanische Kultur vermarktet sich allzu oft als Selbstparodie, und der Fußball ruft in Afrika heutzutage eher nationalistische Reflexe hervor. Algerier und Ägypter schlagen sich die Schädel ein, Angola macht beim Afrika-Cup ausländischen Fans die Einreise schwer - und als dort vor drei Wochen die Fußballnationalmannschaft Togos Opfer eines Rebellenangriffs wurde, waren die Reflexe aus dem WM-Gastgeberland Südafrikas nicht minder gedankenlos: Im offiziellen Südafrika wallte Empörung darüber auf, dass jemand es wagen könnte, einen Vergleich zwischen Südafrika und Angola zu ziehen.

Gedankenlos war dies nicht nur, weil Südafrika die WM als Fest für den ganzen Kontinent vermarktet. Erstaunlich war auch, wie jegliches historische Bewusstsein dabei ausgeschaltet wurde. Denn Südafrika und Angola sind durch eine gemeinsame Geschichte miteinander so leidvoll verbunden wie zum Beispiel Deutschland und Polen. Noch vor gut zwanzig Jahren wurde auf angolanischem Boden auch um das Überleben des südafrikanischen Apartheidregimes gekämpft: Die weißen Generäle stemmten sich im Busch von Angola gegen den "Vormarsch des Kommunismus".

Die schwarzen Freiheitskämpfer des ANC unterhielten in Angola und vielen anderen "Frontstaaten" Trainingslager und Exilstrukturen. Und nachdem die Apartheid in Südafrika 1994 endete, versuchten manche weiße Nostalgiker vergeblich, der Unita-Rebellion von Jonas Savimbi in Angola zum späten Sieg zu verhelfen, um sich damit eine neue Rückzugsbasis zu schaffen.

Dass dies nicht gelang, ist einer panafrikanischen Solidarisierung zu verdanken, die später im Streit über die Kontrolle des Kongo zu Bruch ging - die Folgen prägen noch heute das östliche und südliche Afrika. Wie kann sich Südafrikas Regierung da heute hinstellen und sagen, mit Angola habe man nichts zu tun?

Es geht natürlich nicht um Sport. Es geht um politische Identität in einer Zeit, in der die historische Erinnerung allmählich erlöscht. Heute regiert in Afrika kein einziger Anführer einer antikolonialen Befreiungsbewegung mehr - mit Ausnahme von Robert Mugabe in Simbabwe und vielleicht noch Isaias Afewerki in Eritrea, nicht zufällig den beiden finstersten und isoliertesten Diktatoren des Kontinents.

Die Zeiten, in denen sich die Anführer afrikanischer Untergrundbewegungen vor und nach ihrer Machtergreifung gegenseitig halfen, sind lange vorbei. Wer heute noch versucht, mit Befreiungsarmeen über Landesgrenzen zu marschieren, landet wie Liberias Charles Taylor vor Gericht in Den Haag. Afrikanische Universitäten und Militärhauptquartiere sind keine revolutionären Kaderschmieden mehr.

Auch das gegnerische prowestliche Lager ist nicht mehr, was es einmal war. Die früheren Diktatoren von Zaire, der Elfenbeinküste, Marokko, Togo und Gabun sind alle tot. Heute herrschen dort entweder ihre Söhne - oder die Länder versanken im Bürgerkrieg. Afrikas heutige Präsidenten sind Produkte einer rein nationalen, technokratischen Politik. Afrika ist für sie nicht mehr gedankliche Heimat, sondern Bühne der Selbstdarstellung. An das "Ein-Afrika-Gefühl" oder dessen Wiederauferstehung glaubt nur noch der Tourist - oder Gaddafi.

Kontinent der Vielfalt

Das wirkliche Afrika ist für solche Vereinfachungen zu groß - und es wird immer größer. Der Kontinent hat heute viermal so viele Einwohner wie zur Zeit der Entkolonisierung, die Hälfte der Bevölkerung ist unter 18 und lernt nichts über die Geschichte ihrer Vorväter. Bis Mitte des Jahrhunderts wird allein Nigeria eine Viertelmilliarde Einwohner haben - so viel wie ganz Afrika Mitte des 20. Jahrhunderts.

Uganda wird mehr Einwohner haben als Russland; Kongo mehr als Deutschland, Frankreich und Großbritannien zusammen. Neue soziale Zusammenhänge und neue politische Bewusstseinsformen werden entstehen - und es wird sich herausstellen, dass viele afrikanische Staaten in ihrer jetzigen Form eher zu groß sind als zu klein, um die Probleme ihrer Menschen zu lösen beziehungsweise die Dynamik ihrer Gesellschaften aufzufangen.

Afrikas kulturelle und gesellschaftliche Vielfalt ist einzigartig - und sie wird sich weiter entfalten. Eigentlich ist das ein schönes Zukunftsszenario. Denn wenn von afrikanischer Einheit überhaupt noch die Rede ist, dann liegt das daran, dass die Hautfarbe in der globalen Politik noch immer eine Rolle spielt.

Der Panafrikanismus war immer auch ein Kampf gegen Rassismus. Einen großen Teil seiner Inspiration bezog er und bezieht er noch immer aus Amerika, von den schwarzen Nachkommen der afrikanischen Sklavenbevölkerungen in den USA und der Karibik. Deswegen ist Barack Obama so wichtig für Afrika, deswegen zerreißen die Bilder aus Haiti heute afrikanische Herzen. Aber wenn es einmal egal ist, ob jemand schwarze oder weiße Haut hat, zerbröselt die Idee, dass Afrikaner oder Schwarze überhaupt eine Einheit bilden müssen.

Afrika gibt es nicht? Das wäre falsch.

Aber vielleicht sollte es Afrika nicht geben. Die gemeinsame Vergangenheit ist unauslöschlich. Doch die Zukunft bestimmt jeder selbst: Das ist Freiheit.

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