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Das utopische PrinzipWenn Hund und Schaf sich umarmen

Das Prinzip des „Ganz oder gar nicht“ führt öfter mal nirgendwo hin, meint unsere Autorin. Die Herren vom Ethikrat haben das verstanden.

Kein Wolf, aber utopietauglich: irischer Wolfshund Foto: IMAGO / Wirestock

Z wischen den Jahren ging ich viel spazieren. Es ist eine gnädige Pause zwischen den Erwartungen an Weihnachten und den Erwartungen an Neujahr, und es trieben nur ein paar Leute wie Seesterne durch die Straßen, als hätten sie plötzlich Zeit. Plötzlich glaubte ich ein Bimmeln zu hören und blieb stehen.

Erst sah ich nur ein sehr dickes Schaf, an dessen Hals eine Glocke hing, neben einem sehr dünnen schwarzen großen Hund, dann dahinter den Ethikrat, der drei brennende Windlichter trug. Der Ethik­rat, das sind drei ältere Herren von geringer Größe, die mir gelegentlich Hinweise in Fragen praktischer Ethik geben.

„Gehören die beiden zu Ihnen?“, fragte ich und deutete auf das Schaf und den Hund. „In gewisser Weise ja“, sagte der Ratsvorsitzende und klopfte dem Hund auf die schmale Schulter. „Wir haben sie ausgeliehen, um ein kleines Zeichen zu setzen.“

Das Schaf rempelte den Hund an, es war nicht zu erkennen, ob in freundlicher oder unfreundlicher Absicht. Der Ratsvorsitzende gab eine Art Zischen von sich und das Schaf wandte sich ihm interessiert zu.

„Was für ein Signal?“, fragte ich. „Selbstverständlich geht es um Thomas Morus’ Utopia“, sagte der Ratsvorsitzende. „Laut Morus wird das utopische Prinzip erst wahr, wenn sich Wolf und Schaf umarmen“, sagte eines der Ratsmitglieder, die in der Regel schwiegen, zu meiner Überraschung.

Es tat mir leid in dem Moment, in dem ich es sagte. Kleinkrämerei ist der Tod alles Schönen

„Mein Kollege hatte diesen schönen Gedanken“, sagte der Ratsvorsitzende wohlwollend. „Aber ist dies kein Wolf“, sagte ich, und es tat mir leid in dem Moment, in dem ich es sagte. Kleinkrämerei ist der Tod alles Schönen.

Ganz oder gar nicht

Der Rat sah mich nachdenklich an, als überlegte er, ob sich eine Antwort lohnte. „Ich meine nur“, sagte ich, „es ist ja ein irischer Wolfshund und das sind schon immer meine Lieblingshunde gewesen. Deswegen ist es mir aufgefallen.“

„Das haben Sie ganz richtig gesehen, Frau Gräff“, sagte der Ratsvorsitzende, der das Jahr ungewohnt milde zu beenden schien. „Tatsächlich ist es uns nicht gelungen, einen Wolf zu finden, bei dem wir für die körperliche Unversehrtheit des Schafs hätten bürgen können.“

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„Oh ja“, sagte ich. „Wissen Sie, es interessiert mich auch deshalb, weil mein Eindruck ist, dass immer mehr das Prinzip ‚Ganz oder gar nicht‘ gilt.“ – „Was meinen Sie damit?“, fragte der Vorsitzende, der unpräzise Fragen verabscheut. „Ich werde nie vergessen, dass eine Reportage von mir einmal nicht erscheinen konnte, weil der Informant sie zurückzog. Und zwar weil, so habe ich es zumindest verstanden, dabei herauskam, dass nicht nur der Staat versagt hatte, sondern auch die Familie des Opfers. Ich dachte damals: Es muss doch möglich sein, dass mehrere Parteien Fehler machen, vielleicht auch, dass das Opfer Fehler gemacht hat. Fazit bleibt ja trotzdem, dass der Staat falsch gehandelt hat“, sagte ich. „Die Fehler des einen relativieren ja nicht die des anderen. Aber sie gehören zum Gesamtbild dazu. Mir scheint, dieses 100-prozentige Recht oder Unrecht wird ständig eingefordert, obwohl es selten in Reinform zu haben ist.“

Ich machte eine Pause. Der Hund sah mich an. Irische Wolfshunde sind die lässigsten Hunde überhaupt in ihrer struppigen, klapprigen, riesigen Art und sie sind so gezüchtet, dass sie unfehlbar schwere Hüftschmerzen bekommen. „Werden die Dinge im Alter nicht ohnehin immer uneindeutiger“, sagte ich. „Das ist vielleicht weise, aber auch unpraktisch.“

„Vielleicht möchten Sie sich unserem Zug anschließen“, sagte das andere Ratsmitglied, das in der Regel schwieg. „Es wäre mir eine Ehre“, sagte ich und dann durfte ich die Hundeleine halten und wir zogen bimmelnd durch die Straßen, ein Morus’scher Hoffnungszug.

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Friederike Gräff
Redakteurin taz nord
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