Das Problem mit der Abtreibung: Paderborns Aufklärung
In Paderborn dauerte es über 30 Jahre, bis Abtreibungen möglich wurden. Durchgesetzt hat das eine Ärztin. Probleme hat sie nicht mit der Kirche bekommen - sondern mit den Kollegen.
PADERBORN taz Ein gelber Behandlungsstuhl in einer Paderborner Frauenarztpraxis. Viele der Frauen, die hier Platz nehmen, ihre Füße in die Stützen stellen und die Knie gegen die silberfarbenen Griffe an beiden Seiten drücken, haben sich gegen ein Kind entschieden. Es ist ihre letzte Untersuchung, bevor sie eine Narkose bekommen. Wenig später führt Mireille Dühlmeyer im Nebenraum ein dünnes Röhrchen in ihre Gebärmutter. Mit einer kleinen Pumpe saugt sie das Gewebe ab - die Schwangerschaft ist beendet.
Kreis Paderborn: Hier leben knapp 300.000 Menschen. Mehr als 100.000 Menschen im Dekanat Paderborn sind Katholiken. Bei der letzten Bundestagswahl haben 54,9 Prozent der Wahlberechtigten im Wahlkreis 138 Paderborn für die CDU gestimmt.
Abtreibung: Seit 1976 sind Abtreibungen in Deutschland unter bestimmten Voraussetzungen straffrei. In Paderborn dauerte es bis zum 4. Juni 2008, bis dies auch vor Ort möglich wurde. Rund 114.500 Schwangerschaften wurden im vergangenen Jahr nach
Angaben des Statistischen Bundesamts
in Deutschland abgebrochen.
Rund 114.500 Schwangerschaften wurden 2008 laut Statistischem Bundesamt in Deutschland abgebrochen. In der Region um das katholisch-konservative Paderborn am östlichen Rand Nordrhein-Westfalens hat es jedoch bis zum vergangenen Sommer keine Abbrüche gegeben: Die Kreise Paderborn und das angrenzende Höxter waren die einzigen Kreise in Deutschland, in denen keine Abtreibungen möglich waren. "Uns liegen keine Erkenntnisse über andere Regionen vor", sagt Christian Albring, Präsident des Berufsverbands der Frauenärzte. Seit 1976 sind Abtreibungen in Deutschland unter bestimmten Voraussetzungen straffrei. In Paderborn dauerte es bis zum 4. Juni 2008, bis Mireille Dühlmeyer das Tabu brach.
Frauenbewegung, der Kampf um den Paragrafen 218, "Mein Bauch gehört mir" - in Ostwestfalen scheint es so, als habe es all das nie gegeben. Bis Dühlmeyer kam, mussten Paderborner Frauen das Kreisgebiet verlassen, wenn sie ihre Schwangerschaft abbrechen wollten. Ein offizielles Abtreibungsverbot gab es zwar nicht, aber kein Arzt wollte einen solchen Eingriff vornehmen - und die Krankenhäuser sind alle in konfessioneller Trägerschaft. "Es hat sich nie einer getraut hier im katholischen Paderborn", sagt Mireille Dühlmeyer. Die Paderborner Frauen kamen deshalb in ihre Praxis nach Bielefeld - "zum Teil unter abenteuerlichen Umständen, mit dem Bus, nüchtern und mit ihren Kindern im Schlepptau", sagt sie. "Unhaltbare Zustände" seien das für sie gewesen.
An zwei Tagen in der Woche öffnet Mireille Dühlmeyer ihre Tagesklinik in Paderborn, die sie "gyn Optio" genannt hat - Optio wegen der freien Wahl. "Wenn ich die Frauen aus dem Wartezimmer abhole, gucken sie immer erst mal: Was ist das für eine? Vielleicht stellt man sich eine Frau, die Schwangerschaftsabbrüche durchführt, kühl und brutal vor, wie eine Hexe", sagt sie.
Nach ihrem Studium in Bochum arbeitete die 38 Jahre alte Ärztin in konfessionellen Krankenhäusern. Dort durfte sie nicht einmal die Pille danach verschreiben. Abtreibungen waren in dieser Zeit für sie erst recht kein Thema. Doch dann entschied sich die gebürtige Hannoveranerin, eine Praxis in Bielefeld zu übernehmen. Abtreibungen gehörten dort zum Praxisalltag. "Ich habe mir das auch erst schlimm vorgestellt", sagt die Ärztin und betont: "Ich finde Kinder super." Mireille Dühlmeyer selbst hat sich fünfmal dafür entschieden, ein Kind zu bekommen.
Die Frauen, denen sie bei einem "sehr konkreten Anliegen" helfen könne, seien ihr ans Herz gewachsen, sagt sie. "Das ist befriedigend - auch wenn sich das Wort in diesem Zusammenhang vielleicht merkwürdig anhört", sagt sie. Es sind die ganz jungen, die zu ihr kommen - und die vielleicht schon zu alten, die schon einige Kinder haben. Andere sind vielleicht Opfer einer Vergewaltigung geworden. "Kriminologische Indikation" nennen das trocken die Juristen. "Ich stelle die Frau, die lebt und mir gegenüber steht, über das ungeborene Kind", sagt Dühlmeyer. Die anderen Kolleginnen rund um Paderborn sehen das anders: "Ich nehme aus ethischen Gründen keine Abbrüche vor", sagt die Frauenärztin Claudia Holzmüller-Schäfer, deren Praxis im nach wie vor abtreibungsfreien Kreis Höxter liegt. Zwar akzeptiere sie die Entscheidung von Frauen gegen ein Kind voll - sie selbst möchte aber nicht diejenige sein, die eine Schwangerschaft beendet.
Mireille Dühlmeyer hält wegen der Einstellung ihrer Kolleginnen deshalb jetzt so etwas wie ein Monopol: "Weit über die Hälfte der Frauen" aus Paderborn würden in ihre Praxis gehen, "wenn sie sich denn für den Abbruch entscheiden", schätzt Beate Marchetti, die im Auftrag der christlichen Laienorganisation donum vitae Schwangere in Konfliktsituationen in Paderborn berät. Was genau die Frauen tun, wenn das vorgeschriebene Beratungsgespräch beendet ist, weiß Marchetti aber nicht: Wer abbricht, ruft nicht mehr an.
Vier Kilometer sind es von Dühlmeyers Praxis bis zum Domplatz, dem Zentrum des katholischen Paderborn. "Paderborn ist ein schwarzes Loch", sagt Sabine Lüttges, Leiterin von pro familia in Paderborn. CDU-regiert, für Lüttges ist die Situation von Paderborn kein Zufall. "Das hat viel mit dem Bischofssitz zu tun", sagt sie. Es sei konfliktfreier gewesen, die Frauen in andere Landkreise zu schicken. "Jetzt passiert es auch vor Ort - das ist ein neues Gefühl", sagt die Beraterin. Ein neues Gefühl auch für die Kirche. "Ich nehme das zur Kenntnis, aber vertrete eine andere Position - Leben ist Leben von Anfang an", sagt Bistumssprecher Ägidius Engel. Die Frauen hätten das Recht, sich auf ihr Gewissen zu berufen. Dass die katholische Prägung des Kreises dafür verantwortlich war, dass bis zum Sommer keine Abtreibungen möglich waren, dem "stimme ich zu - warum auch nicht?", sagt Engel.
Die Paderborner brauchen Zeit, um sich an die neue Situation zu gewöhnen. Selbst Patientinnen, die aus anderen Gründen zu Mireille Dühlmeyer kommen, können es nicht recht glauben, wie die Ärztin berichtet. Sie hatte mit Auseinandersetzungen gerechnet. "Viele haben mir prophezeit, dass ich Ärger mit dem Erzbischof bekommen werde - ich habe bislang keine persönliche Reaktion bekommen", sagt sie.
Reaktionen kamen allerdings von ihren Kollegen vor Ort. So habe beispielsweise eine Patientin ihrer Frauenärztin berichtet, dass es im Wartezimmer voll gewesen sei. "Daraufhin rief die Ärztin bei mir an und meinte, ich würde Abbrüche wie am Fließband vornehmen. Sie hat damit gedroht, dass sie mich von der Liste nehmen lassen würde", sagt Mireille Dühlmeyer. Von den Beratungsstellen bekommen die Frauen eine Liste mit den Adressen von allen Ärzten im Umkreis, die Abbrüche vornehmen. Dennoch habe sie gehört, dass manche Kollegen die Frauen nach wie vor wegschicken. Die Paderborner Frauen machen, was der Arzt sagt, und wenn der sie irgendwohin schickt, gehen sie da hin", berichtet Sabine Lüttges von pro familia. "Das Verhältnis Patientin/Arzt ist in Paderborn ganz anders als in Detmold, wo wir auch eine Beratungsstelle haben. Es ist viel hierarchischer."
Direkt wegschicken würde sie ihre Patientinnen nicht, berichtet die Frauenärztin Brigitte Hunstig-Inkmann, deren Praxis im Kreis Paderborn liegt. "Aber ich finde es gar nicht so schlecht für die Frauen, wenn sie woanders hinfahren", sagt sie. Manche Frauen wollten nicht immer wieder an der Tür vorbeikommen, hinter der es passiert sei, oder gesehen werden, wenn sie in die Praxis gehen. "Paderborn ist in dieser Hinsicht eine Kleinstadt", sagt die Ärztin, die auch bei donum vitae engagiert ist. Die meisten ihrer Patientinnen würden daher nach Detmold oder Bielefeld fahren. Ohnehin habe sie die ganzen Jahre keinen Fall erlebt, wo eine Frau keinen Abbruch machen konnte, weil sie nicht nach Bielefeld oder anderswohin kommen konnte. "Die Frauen fahren ja auch zu Ikea nach Bielefeld", sagt sie. Insofern sei es "keine Riesenmarktlücke" gewesen, eine solche Praxis zu eröffnen. Moralische Gründe seien es nicht, die das Verhältnis zu Mireille Dühlmeyer erschweren würden, sondern etwa ein in ihren Augen fragwürdiger Umgang mit Ausfallhonoraren sagt Brigitte Hunstig-Inkmann. "Frau Dühlmeyer verpflichtet die Frauen, zu unterschreiben, dass sie 200 Euro zahlen, wenn sie nicht zum Termin kommen und nicht 24 Stunden vorher abgesagt haben - das setzt die Frauen unter Druck", kritisiert sie. Bei einer solchen Regelung handele es sich um gängige Praxis, sagt dagegen Sabine Lüttges von pro familia. Ein solches Ausfallhonorar ist auch bei anderen Operationen üblich und rechtlich erlaubt. "Zu einer solchen Zahlung ist es bislang noch nie gekommen. Es geht uns darum, dass die Frauen spätestens 24 Stunden vorher absagen, wenn sie sich gegen den Abbruch entscheiden", sagt Mireille Dühlmeyer.
Mireille Dühlmeyer wundert sich noch heute, mehr als ein halbes Jahr nach Eröffnung ihrer Tagesklinik, darüber, dass keiner der Paderborner Frauenärzte selber Abbrüche vornimmt. "Ich habe immer gedacht, die müssen doch die Not sehen", sagt sie. Offenbar gehe es aber auch um wirtschaftliche Dinge. "Mit Abbrüchen verdient man nicht fürstlich, Praxen brauchen auch normale Sprechstunden", sagt sie. Die Angst vor der Kirche sei sicherlich nicht der Grund, warum kein Paderborner Kollege Abbrüche macht, sagt ihre Kollegin Hunstig-Inkmann. "Die Kollegen wollten nicht als Abtreibungspraxis laufen", sagt sie. Bei den Beratungsstellen vermutet man noch andere Gründe. "Ich hatte den Eindruck, dass die Ärzte Angst vorm Spießrutenlaufen hatten", sagt Sabine Lüttges von pro familia. Und auch Elke Degner vom Freien Beratungszentrum hält die Eröffnung der Tagesklinik in Paderborn für eine couragierte Entscheidung. "Es gehört ein Stück Pioniergeist und auch ein bisschen Mut dazu, hier eine solche Praxis aufzumachen", sagt sie.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
BSW-Chefin im ZDF
Wagenknecht macht BND für Irrtum verantwortlich
Keine Konsequenzen für Rechtsbruch
Vor dem Gesetz sind Vermieter gleicher
Fragestunde mit Wladimir Putin
Ein Krieg aus Langeweile?
Kretschmer als MP von Linkes Gnaden
Neuwahlen hätten der Demokratie weniger geschadet
Studie zum Tempolimit
Es könnte so einfach sein