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Das Klimaabkommen von ParisVertrauen ist Verhandlungssache

Im Dezember wäre das Klimaabkommen von Paris fast gescheitert und wurde von einer Politik des Vertrauens gerettet. Nun wird der Deal besiegelt.

Die Architekten des Deals: Laurence Tubiana, Christiana Figueres, Laurent Tubiana Foto: reuters

Am Samstag, dem 12. Dezember 2015, gegen Mittag, weiß Laurent Fabius, dass er gerade Geschichte schreibt. Der französische Außenminister, ein kleiner Mann mit Halbglatze und breitem Lächeln, hat bei der Klimakonferenz ein eigenes Büro. Es liegt im „petit Quai d’Orsay“, einem mobilen Bürotrakt, der als „kleines Außenministerium“ extra für die Konferenz erbaut wurde. Teppichböden liegen hier, Bilder hängen an den Wänden, draußen: Buchsbäumchen und Springbrunnen.

Gerade hat Fabius als Präsident der UN-Klimakonferenz den entscheidenden Vertragsentwurf für ein neues Abkommen vorgelegt. „Unser Text ist die bestmögliche Balance“, hat er den übermüdeten Delegierten aus 195 Staaten zugerufen, die sich im Plenarsaal über die 31 eng beschriebenen Seiten beugen. „Heute ist für uns alle der Moment der Wahrheit.“

Das gilt auch für ihn und sein Team, das seit Monaten auf diesen Moment hingearbeitet hat. Jetzt hoffen sie, dass ihr Text für alle Staaten so weit akzeptabel ist, dass sie nicht rebellieren.

Fabius verbreitet Zuversicht. Er hat den Delegierten drei Stunden Zeit gegeben bis zur Abstimmung. Dann hat er sie zum Mittagessen geschickt. Einen seiner wichtigsten Helfer, den deutschen Staatssekretär Jochen Flasbarth, hat er schon nach Berlin verabschiedet. Nach zwei Wochen Dauerstress will sich Flasbarth am Abend beim Konzert der Band Erdmöbel erholen.

Die US-Delegation hat ein Problem

Da meldet sich um kurz vor 13 Uhr US-Außenminister John Kerry, der die amerikanische Delegation leitet. Die Amerikaner haben „ein ernstes Problem mit dem Text“.

Paris ist nicht irgendeine Konferenz. Hier soll 21 Jahre nach der Verabschiedung der Klimarahmenkonvention endlich ein weltweiter Vertrag geschlossen werden, der ab 2020 alle Länder der Welt zum Klimaschutz verpflichtet: weg von Kohle und Öl, Rettung der Wälder, mehr Geld für die Armen, mehr Gerechtigkeit. Bisher ist das noch nie gelungen.

2009 ist der erste Versuch dazu in Kopenhagen gescheitert; am Unwillen, an der schlechten Vorbereitung der Dänen. Und am Misstrauen.

Klimaverhandlungen, COPs im UN-Jargon, sind seltsame Veranstaltungen. Irgendwo zwischen Abrüstungsverhandlungen und absurdem Theater. Sie sind der Versuch, ohne eine Weltregierung die Welt zu regieren. 195 Länder sollen einen Konsens finden, die sich sonst nicht über den Weg trauen. Immer schwingen bei den Debatten globale Machtansprüche und das Erbe des Kolonialismus mit, der Frust von Jahren des Stillstands und die Angst vor wirtschaftlichem Abstieg. Nichts ist so nötig wie Glaubwürdigkeit, denn niemand kann zu irgendwas gezwungen werden.

Wenn es also in Paris Fortschritt geben soll, müssen Diplomaten, die ihr Gegenüber und dessen Argumente seit Jahrzehnten kennen, neues Vertrauen fassen. Aber wie genau geht das? Der Druck ist riesig: Alle kennen die Fakten der Wissenschaftler. Alle wissen, dass sie sich gemeinsam bewegen müssen. Aber ohne das Zutrauen, dass der andere gleichzeitig springt, gibt kein Diplomat einen Millimeter Boden auf.

Für diese Seelenmassage ist Fabius zuständig, der als Präsident der Konferenz eigentlich machtlos ist. Wenn er in die Geschichtsbücher eingehen will, ist er zum Erfolg verdammt. Er weiß: Dafür muss er zwei Wochen lang loben, zuhören, trösten, schmeicheln – und im richtigen Moment zupacken.

Klimadiplomaten haben etwas Masochistisches

Die Franzosen haben für den Erfolg von Paris geschätzte 30 Millionen Euro investiert. Die Organisation ist perfekt. Trotz verschärfter Auflagen drei Wochen nach den Terrorangriffen in Paris gibt es an den Sicherheitsschleusen kaum Schlangen; überall stehen freundliche Helferinnen und Helfer, Hybridbusse und Vorortzüge bringen die 40.000 Teilnehmer ans Ziel. In einem Glaskasten zaubern Bäcker des Gourmet-Boulangers „Paul“ täglich 1.000 duftende Baguettes vor den Augen der Delegierten. Monatelang haben Laurent Fabius und sein Präsident François Hollande als Gastgeber eine Koalition der Willigen aus Politik, Wirtschaft, Umweltgruppen und Kirchen geschmiedet. Noch nie war ein Klimagipfel besser vorbereitet.

Und trotzdem wäre Paris beinahe zu einem zweiten Kopenhagen geworden. Unbemerkt von der breiten Öffentlichkeit stand die Konferenz an diesem Nachmittag kurz vor dem Scheitern. Gerettet wurde sie durch gute Vorbereitung und kluges Verhandeln, vor allem aber: durch gegenseitiges Vertrauen.

Sonst ist „Trust among the parties“ auf Klimakonferenzen eher selten. Da versteckt sich hinter formeller Höflichkeit oft Frust über Verletzungen der Vergangenheit. Da werden schwache Länder eiskalt ausgebootet, da bestimmt der größte Bremser das Tempo, da haben am Schluss alle schlechte Laune.

Klimadiplomaten haben etwas Masochistisches. In Paris sollen sie sich wohlfühlen.

Die Weltrettung gibt es nur im Konjuktiv

Fabius ist seit dem Alarm der Amerikaner angespannt. Er berät sich mit einer kleinen Frau mit weißen Haaren und einem gewinnenden Lächeln: Klimabotschafterin Laurence Tubiana, 63, vormals Chefin des Pariser Thinktanks IDDRI, eine Ökonomin und Insiderin der Klimapolitik. Sie hat die Konferenz minutiös vorbereitet. Ihr Stab von Dutzenden Experten hat alle Klimakonferenzen im Detail studiert, in Planspielen die taktischen Manöver der verschiedenen Lobbys und Staatengruppen vorausgedacht und Verhandler der wichtigsten Staaten schon lange vor der Konferenz zu vertraulichen Treffen zusammengebracht. Überall auf der Welt haben Fabius und Tubiana an zwei Dingen gearbeitet: Transparenz und Vertrauen. „Es wird keine Hinterzimmerdeals geben“, betonen sie bei jeder Gelegenheit.

Genau danach sieht es aber an diesem Samstagnachmittag plötzlich aus. In dem Textentwurf steht unter Artikel 4.4.: Die Industrieländer „werden weiterhin die Führung bei der Anwendung von Reduktionszielen übernehmen“. Im englischen Text: „shall take the lead“. Die US-Delegation läuft Sturm. Der Text sei nicht abgestimmt. Bisher stand in allen Papieren an dieser Stelle: „should take the lead“ – „sollten“ statt „werden“. Mit dieser Festlegung kann sich Präsident Barack Obama im von Republikanern dominierten US-Kongress nicht blicken lassen. Die Delegation um Kerry macht klar: Die Rettung der Welt gibt es nur im Konjunktiv.

Außerhalb des engsten Verhandlungskreises bleibt alles ruhig: Viele Delegationen, Journalisten und Umweltgruppen beugen sich zunehmend begeistert über den Text des Abkommens, der den Klimaschutz deutlich schärfer formuliert als die Entwürfe davor. Fabius und Tubiana telefonieren jetzt hektisch. Wie kommt das „shall“ in den Text? Und wie kommt es da wieder raus? Der Delegierte eines Entwicklungslandes sagt zu einem US-Verhandler: „Das ‚shall‘ist der Grund, warum wir mit dem Text einverstanden sind“ – „Das ist völlig verrückt“, sagt der Amerikaner. „Wir haben dem niemals zugestimmt.“

Der Vertrag ist ein Meisterwerk der Klima-Diplomatie

Dieser Entwurf ist ein fein austarierter Kompromiss. Ein Meisterwerk, dessen nüchterne Juristenprosa ein Diplomat einen „wunderschönen Text“ nennt. Er legt fest, den Klimawandel unter 2 Grad zu begrenzen, ja sogar 1,5 Grad anzustreben. Alle Länder verpflichten sich zum Handeln, aber die Reichen müssen anfangen. Jede wichtige Gruppe bekommt genau so viel, wie sie für einen Kompromiss braucht, die Schmerzgrenzen sind präzise abgezirkelt. Wer in diesem komplexen Gebäude einen Pfeiler antastet, der riskiert, dass auch andere noch Änderungswünsche haben – und dass alles zusammenbricht.

Genau das fordern jetzt die Amerikaner. Bei der „shall/should“-Frage sind sie kompromisslos. Nur, wie gibt man ihrem berechtigten Drängen nach, ohne den Text auch für alle anderen Forderungen zu öffnen? Solche Verhandlungen sind ein Balanceakt: Handfeste wirtschaftliche Interessen mischen sich mit „weichen Faktoren“ wie Gruppendynamik, Sympathie, Glaubwürdigkeit. Die Franzosen haben das mit eingeplant: Alles muss stimmen, vom Transport bis zum Essen. Fabius und Tubiana betonen immer wieder, ihre Türen stünden allen offen. Mit eigenen Vorschlägen haben sie sich zurückgehalten.

„Akzeptanz und Vertrauen in die Autorität des COP-Präsidenten sorgen für guten Willen unter den Delegationen und garantieren dem Präsidenten Spielraum für wichtige Entscheidungen“, hat der deutsche Politikwissenschaftler Kai Monheim etwa zehn Monate vor der Konferenz in einer Studie geschrieben. „Sie reduzieren auch das Potenzial für Blockaden“. Diese Analyse haben Fabius und seine Leute damals sehr aufmerksam gelesen. Monheim reiste zu den Regierungen nach Paris, London, Berlin und zum UN-Klimasekretariat in Bonn.

Viel fliegen, kompetent sein, Humor zeigen

Seine Ratschläge für eine erfolgreiche Konferenz: die Chance auf persönlichen Kontakt zwischen den Delegierten und Fabius, viele Flugkilometer, um den Ländern ihre Bedeutung zu zeigen, Kompetenz bei dem Thema – und nicht, wie der dänische Ministerpräsident in Kopenhagen vor dem Plenum sagen: „Ich verstehe eure Regeln nicht!“ Außerdem absolute Neutralität des Vermittlers, was Fabius durch Vorschläge beweist, die Europäern und Amerikanern wehtun. Und schließlich: Humor.

Um das Problem der Amerikaner zu lösen, beraten sich Fabius und Tubiana mit der Chefin des UN-Sekretariats UNFCCC, Christiana Figueres. Auch die energische Diplomatin aus Costa Rica will in Paris ihr Meisterstück abliefern. Seit dem Desaster von Kopenhagen leitet sie die UN-Behörde, die die Klimadiplomatie organisiert.

Das Thema hat in der UNO hohe Priorität; UN-Generalsekretär Ban Ki Moon fehlt bei keiner Klimaverhandlung. Figueres ist der Motor im Hintergrund: Sie treibt ihre Leute dazu an, dass die Organisation reibungslos läuft, Dokumente rechtzeitig übersetzt werden und auch Delegierte aus Tuvalu oder Swasiland ihren Sitzplatz bekommen. Die Tochter des ehemaligen Präsidenten von Costa Rica mit den kurzen braunen Haaren und dem wachen Blick weiß: Die „shall/should“-Frage kann die Konferenz sprengen.

Ein Jahr zuvor bei der Klimakonferenz in Lima hat ein zu früh veröffentlichtes Papier die Verhandlungen in der entscheidenden Phase einen ganzen Tag lang blockiert. Und in Kopenhagen 2009 war es ein „Geheimpapier“ der Dänen, das die Konferenz platzen ließ. Sollte auch Paris an einem solchen Fehler scheitern? Selten wird klar, ob das wirklich Fehler sind oder ob eine Strategie dahintersteckt.

Ist es Sabotage? Oder nur Müdigkeit?

Die hektischen Ermittlungen zeigen: Das umstrittene „shall“ ist in das Dokument gelangt, obwohl es in keinem der vorherigen Entwürfe stand. Geschrieben haben den Text zwei Franzosen und ein UN-Angestellter. War es Sabotage, um den Vertrag im Plenum scheitern zu lassen? „Vielleicht ist der Text von außen gehackt und verändert worden“, vermutet eine Insiderin. Immerhin hatten Aktivisten der Gruppe „Anonymus“ die Website der UNFCCC während der Konferenz angegriffen und teilweise lahmgelegt. Dass solche Theorien diskutiert werden, zeigt, wie wacklig das Vertrauen sein kann – und wie wichtig es ist. Offiziell klingt die Antwort wenig dramatisch: Die Experten seien übernächtigt gewesen, der Begriff sei durchgerutscht.

Einerseits ist diese Erklärung einleuchtend. Andererseits: Die Franzosen haben bis zu diesem Zeitpunkt die Konferenz „ohne jeden Fehler“ geleitet, wie alle Beobachter sagen. Unterläuft diesen Profis wirklich so ein Schnitzer? Vor allem Tubiana ist genauestens informiert. Bei ihr laufen rund um die Uhr Informationen zusammen, auch über die Stimmungen auf den Fluren des Konferenzzentrums. Per geschützten SMS und WhatsApp-Nachrichten werden Details geklärt und Probleme gelöst, manchmal ganz banale: „Wir brauchen hier Unterstützung. Meine Leute sind so müde, dass sie nicht mehr klar denken können.“

Und immer gilt für das ganze Team: Stimmung hochhalten, lächeln, Konflikte im Ansatz erkennen. Fabius nennt die Delegierten konsequent: „Mes chers amis!“ Tubiana leitet unermüdlich Sitzungen, bearbeitet Delegierte, informiert Journalisten. Niemand merkt ihr an, dass sie erst eine Woche vor Beginn der Konferenz am Blinddarm operiert wurde. Im Sommer hat sie sich nach einem schweren Reitunfall auf Krücken zu den Gesprächen gequält. Seit 2014 waren Fabius, Tubiana und Figueres für die Vorbereitungen der Konferenz unterwegs. In Paris zahlt sich das aus.

Die Drama-Queen aus Venezuela

Aber plötzlich melden am Samstagnachmittag noch andere Länder Bedenken an. Die Türkei hat eine unmögliche Forderung: Weiter als Industrieland gelten, aber Zugang zu den Geldtöpfen für Entwicklungsländer bekommen. Dem sozialistischen Nicaragua ist der Verweis auf marktwirtschaftliche Regeln nicht geheuer, es ist ohnehin eines der wenigen Länder, die sich der Logik der Konferenzen verweigern und keinen Klimaplan aufstellen. Und in der „afrikanischen Gruppe“ mit über 50 Staaten fliegen hinter verschlossenen Türen die Fetzen: Die wirtschaftlich mächtigen Länder Nigeria, Ägypten und Südafrika wollen, falls Geld zugesagt wird, als genauso bedürftig eingestuft werden wie die bettelarmen Entwicklungsländer. Fabius und Tubiana brauchen jetzt eine schnelle Lösung, sonst droht ein zweites Kopenhagen.

Bisher ist die Strategie der französischen Regie aufgegangen: Transparenz, Zuhören und Hoffnung geben. Als die Staatschefs am ersten Tag der Konferenz erschienen, signalisierten sie Kompromissbereitschaft. Angela Merkel und François Hollande brachten die lange vergessene Obergrenze von 1,5 Grad wieder ins Spiel. Das Ziel ist praktisch kaum zu erreichen, aber ein Signal an die Inselstaaten: „Wir haben euch noch nicht aufgegeben.“ Auch Barack Obama widmete den Inselstaaten einen Teil seiner knappen Zeit. Und die reichen Nationen und Konzerne versprachen in der ersten Woche viel Geld für arme Länder, die schon bald gute Absatzmärkte sein könnten: Für besseren Schutz der Wälder, für Solarenergie in den Tropen, für die Entwicklung in Afrika. „Als im ersten Textentwurf der Franzosen die 1,5 Grad auftauchten, dachten wir: Sie nehmen uns wirklich ernst“, erinnert sich eine afrikanische Verhandlerin.

Geschickt hat Fabius alle Fraktionen eingebunden. Er besetzte den Vorsitz der Arbeitsgruppen zu kniffligen Fragen teilweise mit den größten Kritikern: Über die zentrale Frage, welche Länder welche Pflichten übernehmen, ließ er ausgerechnet die Delegierte aus dem Bremserstaat Singapur verhandeln. Und für die Präambel engagierte er die venezolanische UN-Botschafterin, die als „Drama-Queen“ gefürchtete Claudia Salerno. Wer so beteiligt wird, kann hinterher nicht mit dem Argument kommen: „Wir wurden übergangen!“

Außerdem stehen in Fabius’Texten Vorschläge, die der EU und den USA überhaupt nicht schmecken, zum Beispiel zum heiß umkämpften Thema Finanzen. So hat er Punkte bei den Entwicklungsländern gemacht.

Deals aus den Augen der anderen sehen

Langsam ist unter den Delegierten das gegenseitige Misstrauen gewichen. Ein EU-Verhandler erinnert sich an die etwa zehn vertraulichen Treffen aller wichtigen Delegationsleiter im Jahr 2015, bei denen jeder seine roten Linien formulieren konnte: „Plötzlich befand man sich im Kopf des anderen und sah die Fragen aus dessen Sicht.“ Selbst hartgesottenen Diplomaten sei dann manchmal ein Licht aufgegangen: „Ah, so klingt diese Formulierung also, wenn ich ein Saudi bin.“

Zur Vertrauensbildung gehört auch geteilte Übermüdung. Donnerstag der zweiten Woche: Fabius hat das „Comité de Paris“ einberufen. In einem abgeschirmten schmucklosen Raum von der Größe einer Turnhalle saßen wieder einmal die Vertreter aller wichtigen Ländergruppen um ein Karree von Tischen. Pro Staat waren nur drei Delegierte erlaubt, es wurde „sondiert“. Das ewige Palaver zog sich die ganze Nacht hin. Eine Wortmeldung folgte der nächsten, obwohl alle Positionen längst bekannt waren. Trotzdem redete man bis in den Morgen. Ohne greifbares Ergebnis, außer einem: Alle haben sich ausgesprochen. Und gemeinsam gelitten.

Die Zeit für die endgültige Beratung am Samstagnachmittag – 15.45 Uhr – ist längst verstrichen. Fabius setzt als neuen Termin 18 Uhr an. Beobachter und Journalisten ahnen jetzt, dass nicht alles glatt läuft. Hollande telefoniert mit seinem Amtskollegen Erdoğan. Die Türkei schwenkt ein. Um das rebellische Nicaragua kümmert sich die katholische Kirche: Der Vatikan setzt den Erzbischof von Managua in Gang, damit der Staatspräsident eine Blockade verhindert. Und in der Afrika-Gruppe kommt es zum offenen Konflikt: Die armen Länder stellen ihre reichen Nachbarn vor die Wahl – entweder mit ihnen das Ergebnis akzeptieren oder sich im Plenum allein gegen alle stellen. Fabius sichert Türken und Afrikanern zu, sich nach der Konferenz persönlich um ihre Anliegen zu kümmern.

Da weiß noch niemand, dass Fabius zwei Monate später seine Posten als Außenminister Frankreichs und als Präsident der Klimakonferenz aufgeben wird. Ein kalkulierter Vertrauensbruch? Das gehört wohl auch zu den Spielregeln. Allen Beteiligten ist bewusst: Vertrauen in politischen Verhandlungen hat eine kürzere Halbwertszeit als im Privaten.

Um 18 Uhr strömen die Delegationen und Beobachter in die Messehalle „La Seine“. Der Raum hat einen Boden aus Holz, ist mit weißen Stühlen möbliert, an den Seiten geben rötliche Lampen der schmucklosen Halle ein warmes Licht. An der Stirnseite erhebt sich das Podium für die Prominenz: François Hollande, UN-Generalsekretär Ban Ki Moon, Klima-Stars wie der ehemalige US-Vizepräsident Al Gore oder der Ökonom Nicolas Stern. In der Luft hängt die Erwartung des großen Finales.

Bewährungsprobe fürs Vertrauen

Eine französische Diplomatin zittert vor Schlafentzug und Aufregung, ein US-Delegierter trippelt angespannt zwischen den Besucherreihen hin und her. Plötzlich schiebt sich eine breite Front von Politikern aus dem Eingang. Eingehakt erscheinen der EU-Klimakommissar Miguel Arias Cañete, die deutsche Umweltministerin Barbara Hendricks, der Unterhändler der Marshall-Inseln Tony de Brum, die Vertreter der USA, Brasiliens und etwa zwei Dutzend weiterer Staaten. Wie sie da einmarschieren, ähneln die Politiker Gladiatoren.

Alle sind versammelt. Aber es geht nicht los. Fabius trifft sich abseits des Podiums mit vielen verschiedenen Vertretern in einem „Huddle“, einem informellen „Haufen“. Sein Team erklärt den wichtigsten Delegationen das „shall/should“-Problem. Jetzt muss sich zeigen, was die Investitionen von Fabius und Tubiana in „trust building“ wert sind. Es funktioniert: Die wichtigsten Figuren im Klimapoker lassen sich von den Franzosen davon überzeugen, dass es ein Versehen war und kein Foulspiel der US-Delegation.

Der chinesische Verhandler Xie Zhenhua lächelt um die Wette mit Claudia Salerno aus Venezuela, die sonst abonniert ist auf dramatische antikapitalistische Auftritte. US-Außenminister John Kerry wandert durch die Stuhlreihen und stellt sich wie zufällig mit Xie und der Botschafterin von Südafrika zusammen, die für die Entwicklungsländer spricht. Das Bild soll allen deutlich machen: Hier gibt es keine Probleme. Während hinter ihnen genau diese Probleme gelöst werden.

Kurz vor 19 Uhr ruft Fabius endlich den Saal zur Ordnung. Mit einem breiten Lächeln übergibt er dann zur „Klärung des Dokuments“ an Richard Kinley vom UN-Sekretariat, den Stellvertreter von Figueres. „Es geht um technische Korrekturen“, betont der. Und rasselt in schnellem Englisch ein Dutzend Änderungen von Kommas und Textdopplungen herunter.

Fabius' entscheidender Schlag.

Er entschuldigt sich für die Fehler von „Mitarbeitern, die seit Tagen nicht geschlafen haben“. Etwa in der Mitte seines Redeflusses erwähnt er auch: „In Absatz 4.4. sollte das „shall“ ein „should“ sein …“ Die Eingeweihten halten die Luft an. Jetzt wäre der Zeitpunkt für Widerspruch. Aber alles bleibt still.

Der Text ist bereinigt. Jetzt holt Laurent Fabius zum entscheidenden Schlag aus. Er setzt seine Lesebrille korrekt auf die Nase und spricht ruhig und in schnellem Französisch, das die meisten Delegierten erst mit der Verzögerung des Simultandolmetschers verstehen. Statt wie üblich erst eine Diskussion zu eröffnen, hat er das umgekehrte Verfahren angekündigt, sagt aber, „wie es ja normal ist“: erst Abstimmen, dann reden.

Nach ein paar einschläfernden technischen Details hebt er um 19.26 Uhr kurz den Blick ins Publikum und sagt: „Die Reaktion auf meine Vorschläge ist positiv, ich sehe keine Gegenstimmen.“ Seine zitternde Hand sucht nach dem Hammer des Konferenzleiters. „L’accord de Paris est accepté“, sagt Fabius. Dann schlägt er mit dem Hammer auf den Tisch.

Der Saal explodiert in Jubel, Tubiana hat nach einer langen Umarmung mit Figueres Tränen in den Augen.

Als nach minutenlangem Toben wieder Ruhe eintritt, melden sich die Delegationen zu Wort. Wenn jetzt große und wichtige Ländergruppen ihr Veto einlegen, kann alles noch kippen.

Zuerst spricht Südafrika für die Entwicklungsländer – Zustimmung.

Australien für die Bremser bei den Industriestaaten – Zustimmung.

China für China – Zustimmung.

So geht es Schlag auf Schlag weiter. Alle beglückwünschen Fabius und sich selbst. Nur Nicaragua bleibt in der Schmollecke, stellt sich aber nicht gegen den Kompromiss.

Am 12. Dezember 2015 haben 195 Staaten gezeigt, was möglich ist, wenn sie sich gegenseitig einen Vorschuss an Vertrauen geben.

Am 22. April 2016 wird das Abkommen von Paris in New York unterzeichnet.

Dann muss es nur noch Realität werden.

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