Das Interview: „Die Vertreibung hat mich gerettet“
Der Schriftsteller Arno Surminski geht auf die 80 zu und blickt zurück. Eigentlich hätte er nie politisch geschrieben, ungewollt seien seine Bücher politisch betrachtet worden.
taz: Von wem haben Sie das Schreiben: Vom Vater? Von der Mutter?
Arno Surminski: Tja – sowohl als auch. Mein Vater hatte für einen ostpreußischen Dorfschneidermeister ein starkes Niveau in geistiger Hinsicht, er ist auch viel in Königsberg gewesen. Meine Mutter war die lebhafte, die heitere, auch die tatkräftige. Beides hat sich gemischt. Allein mit den Gaben meines Vaters wäre ich nicht Schriftsteller geworden. Nur mit denen meiner Mutter aber auch nicht.
Was war zuerst da: das Beobachten oder das Erzählen?
Ich glaube, entscheidend war mein Interesse an zeitgeschichtlichen Ereignissen. Ich war acht oder neun Jahre, da habe ich gebannt Nachrichten gehört, war unheimlich interessiert an der Welt. Mein Verständnis von der Schriftstellerei ist: Man muss sehr viel wissen, weil man nur daraus etwas ableiten und Vergleiche anstellen kann.
Es gibt natürlich die Schriftsteller, die das Wissen nicht haben, die schreiben nur über sich. Das ist dann eine sehr schmale Spur. Meine Romane erzählen eigentlich alle von Zeitgeschichte. Und um diese eindringlich zu machen, verknüpfe ich es mit Gefühlen und den Schicksalen von Menschen. Sonst wären es Sachbücher.
Sie haben das Kriegsende als Zehnjähriger erlebt, Ihre Eltern wurden verschleppt, Sie waren von einem Tag auf den anderen auf sich allein gestellt. Aber Sie haben sich immer gegen die Deutung gewehrt, besonders mit Ihren ersten Büchern hätten Sie gegen dieses Trauma angeschrieben.
Ich habe immer das Gefühl gehabt, dass ich das Trauma nicht habe und es von daher auch nicht bewältigen muss. Als ich „Jokehnen oder Wie lange fährt man von Ostpreußen nach Deutschland?“ schrieb, war es nicht so, dass ich mir da was vom Herzen schreiben musste. Ich hatte schon vorher einiges versucht, auch Kurzgeschichten, die auch veröffentlicht wurden. Aber dann hatte ich die Idee: Du hast etwas Ungewöhnliches erlebt – das Kriegsende, die Flucht, die Vertreibung – versuche das doch mal zu schreiben. Ich wählte dann die Perspektive aus der Sicht eines Kindes, um das zu schildern.
79, wurde im ehemals ostpreußischen Jäglack (heute Jaglawki) geboren.
Nach Kriegsende werden seine Eltern nach Sibirien deportiert. Der elfjährige Surminski gelangt über Umwege nach Trittau bei Hamburg, wo er von fernen Verwandten aufgenommen wird.
Nach der Schule absolviert er eine Lehre bei einem Anwalt. 1974 debütiert er mit "Jokehnen oder Wie lange fährt man von Ostpreußen nach Deutschland?".
Seitdem hat er mehr als 30 Bücher veröffentlicht: Romane, Erzählungen, Bildbände oder Sachbücher wie "Versicherung unterm Hakenkreuz". Gerade erschien "Jokehnen oder Die Stimmen der Anderen" über die Wirkungsgschichte des Jokehnen-Buches.
Heute lebt er in Hamburg. In Wacken, wo er lange wohnte, hat er in den letzten Jahren einen Wald mit gut 10.000 Laubbäumen gepflanzt.
Sie haben Ihre Eltern nie wiedergesehen. Sie sind über Umwege 1946 zu entfernten Verwandten nach Schleswig-Holstein gekommen, dort in einer Familie mit sieben Kindern aufgenommen worden. Später, als junger Mann, sind Sie zunächst als Holzfäller nach Kanada gegangen.
Das war in den 50ern, wir waren eine Gruppe von Freunden aus Trittau bei Hamburg und hatten Abenteuerlust. In meinem Roman „Fremdes Land“ wird es ein wenig so dargestellt, als wären wir ausgewandert, weil die Wiederbewaffnung bevorstand. Es gab ja tatsächlich viele, die damals deswegen nach Kanada oder Australien gingen. Bei mir war das nicht der Fall. Ich war ein sogenannter weißer Jahrgang und wäre so oder so nicht zur Armee gekommen.
Wir haben damals viel Geld verdient. Und es gab alles zu essen: Man konnte zehn Eier essen, wenn man wollte, es gab Käse, es gab Wurst. Wir kamen ja aus dem Nachkriegsdeutschland, kannten Hunger, kannten Bezugsscheine. Wir sind alle vier wiedergekommen. Ich war damals schon sehr mit dem Schreiben beschäftigt und konnte mir nicht vorstellen, im kanadischen Busch, umgeben von englischsprachigen Zeitungen, deutsche Bücher zu schreiben.
Ihr Debüt „Jokehnen“, das Ihre Flucht von Ostpreußen nach Westdeutschland schildert, erschien 1974. Wie waren die Reaktionen?
Überwältigend! Es fing mit einer kleinen Auflage an. Dann kam schnell eine zweite, dann das Taschenbuch – mit bald über 20 Auflagen. Es gab ja auch zuvor Bücher, die von Ostpreußen erzählten, von der Flucht, den Trecks. Aber ich hatte eine andere Art, darüber zu schreiben: ohne anzuklagen, durchaus mit Humor und eben versöhnlich.
Als Ihr Buch erschien, gab es noch den Kalten Krieg. Es wurde heftigst um die Ausrichtung der deutschen Ostpolitik gerungen.
Ich habe nie politisch geschrieben. Aber ungewollt wurden meine Bücher politisch betrachtet. Die Funktionäre der Vertriebenenverbände wollten mich für ihr Zentrum gegen Vertreibung gewinnen. Ich habe dann einen langen Brief geschrieben, warum ich das nicht will. So gelte ich dort als Outcast. Aber das gilt nur für die Spitze. Die Mehrheit der Vertriebenen dachte und denkt so wie ich: Man muss mit den Menschen, die heute dort leben, wo wir lebten, gut zusammenleben. Man kann nicht hingehen und sagen: „Das gehört mir.“
Das Zentrum hieß ja ursprünglich nur „Zentrum gegen Vertreibung“, mehr nicht. Da können Sie schon aus der Wortwahl sehen, worum es ging: Vertreibung – das ist der einzige Schrecken aus jener Zeit, der etwas mit Grund und Boden zu tun hat. Das, was mir so nahe gegangen ist, das Töten auf der Flucht, die Deportationen der vielen Zivilisten nach Sibirien, die Vergewaltigungen, die kommen da gar nicht vor. Mir hat die Vertreibung in Anführungszeichen das Leben gerettet.
Im Dezember 45 kamen zwei Leiterwagen mit polnischen Milizsoldaten in unser Dorf und alle Deutschen mussten raus nach Deutschland. In Güterwaggons ging es nach Frankfurt an der Oder und dann weiter nach Berlin. Wenn das nicht geschehen wäre, ich hätte als nur elfjähriger Junge den eisigen Winter wohl nicht überlebt. Oder fragen Sie die Königsberger, die bis 1948 in Königsberg bleiben mussten: Die haben Gott gedankt, dass sie weg mussten. Den Vertreibungsmythos kann man nicht unterstützen.
Das Feuilleton wiederum hat Sie rechts liegen gelassen.
Es gab gleichzeitig die Manie: Wer über Ostpreußen schreibt, der ist ein Revanchist, der ist verdächtig.
Sie haben erst unlängst erfahren, was genau mit Ihren Eltern passiert ist. Wann bekamen Sie überhaupt die ersten Informationen?
Jeder Mensch hat sich damals ans Rote Kreuz gewandt, ich natürlich auch. Und es kamen Hinweise von Heimkehrern: „Deine Eltern sind da und da gewesen“, aber es war nichts Konkretes. Dann kam 1998 aus Archiven in Russland ein erster Hinweis, dass meine Eltern in einer Region 1.000 Kilometer östlich von Moskau gestorben seien: Mein Vater im Mai 45 und meine Mutter im Juni 46. Vor ein paar Jahren dann erhielt ich über das Rote Kreuz ein Protokoll: die Vernehmung meiner Mutter durch das Volkskommissariat für innere Angelegenheiten, einen Monat vor ihrem Tod.
Und es gibt diese Absurdität: Zum ersten Mal sehe ich die Unterschrift meine Mutter, denn sie musste dieses Protokoll natürlich unterschreiben. Ich habe es übersetzen lassen, aber es enthält nichts Bewegendes: Man macht aus ihrer Herkunft von einem Bauernhof eine Gutsbesitzerin. Und dann wurde sie gefragt, wie viele Sprachen sie spricht und ob sie im Ausland war. Sprachen können und im Ausland gewesen sein – das war ja in der Sowjetunion verdächtig.
Sie haben viele Bücher über das einstige Ostpreußen geschrieben, auch einige Bildbände herausgegeben – und dann widmen Sie sich plötzlich 2008 dem Holocaust mit Ihrem Buch „Die Vogelwelt von Auschwitz“. Wie kam es?
Das war noch mal was ganz Neues. Wobei ich immer aufmerksam durchs Leben gegangen bin und wache Ohren hatte, auf der Suche nach Stoffen. Nun – ich hatte einen längeren Briefwechsel mit einem Ornithologen, der sich gut auf der Kurischen Nehrung auskannte. Eines Tages schrieb er mir mal wieder einen Brief, erwähnte nebenbei, dass er zum Jubiläum seines Verbandes einen Vortrag gehalten hätte und in diesem Vortrag, den er mir dann auch schickte, kommt am Ende die Bemerkung: „Mein Vorvorgänger war Wachmann in Auschwitz und hat einen Aufsatz über die Vogelwelt in Auschwitz verfasst.“
Ich war natürlich wie elektrisiert, besorgte mir diesen Aufsatz, recherchierte die Geschichte und schrieb eine Novelle über einen Ornithologen, der, während die Häftlinge zur Rampe geführt werden, sich um die Vogelwelt kümmerte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Keith Kelloggs Wege aus dem Krieg
Immer für eine Überraschung gut
Ampel-Intrige der FDP
Jetzt reicht es sogar Strack-Zimmermann
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Antisemitismus in Berlin
Höchststand gemessen
Unterbringung und Versorgung
Geflüchtetenaufnahme belastet Kommunen weiterhin deutlich