Das Ding, das kommt: Protest-Perspektive
Protest und Aufruhr: Wenige machen ihn, andere versuchen, ihn in Schach zu halten, viele schauen zu. Vorbei aber sind die Zeiten, in denen die Ordnung des Geschehens übersichtlich war und die Instrumente von rührender Schlichtheit. Ex-tazlerin Mariam Lau berichtete mal, dass ihr Vater, der iranische Oppositionelle Bahman Nirumand, sich einem Vertreter der Staatsmacht gegenübersah, der an der Straßenecke stand und jeden seiner Schritte durch zwei Gucklöcher beobachtete, die er in eine Zeitung geschnitten hatte.
Die Gucklöcher von heute heißen Tracking, IMSI-Catching, Bodycam, soziale Netzwerke und so weiter. Und damit bekommt die Angelegenheit noch mal einen ganz anderen Dreh: Alle beobachten sich auf zunehmend perfekte Weise gegenseitig – und sich selbst gleich mit.
Jimmy Cauty, ehemaliges Mitglied der britischen Band The KLF, hat diesen komplexen Beobachtungsvorgang mit einem Projekt aufgegriffen, in dessen Mittelpunkt kleine Gucklöcher stehen und eben nicht das große Schaufenster (moderner Protest- und Polizeiarbeit). Interessierte können in einen am Hamburger S-Bahnhof Sternschanze abgestellten Container schauen. Und sehen dann das Diorama einer zerstörten Modellbaustadt, in der nur noch Polizisten übrig geblieben sind.
Rund 5.000 von ihnen können aus unterschiedlichen Perspektiven dabei betrachtet werden, wie sie Spuren beseitigen, die Ordnung symbolisch wieder aufrichten, herumstehen und -sitzen und sich einen Reim auf das Geschehen machen. Und während man schaut, merkt man: Was geschehen ist und geschieht, hängt vom Standort des Gucklochs ab. Und von den eigenen Interpretationen, bei denen die Betrachteten nicht helfen können.
Cauty selbst jedenfalls will seine Peepshow so verstanden wissen. Und so ergibt sich eventuell die Ansicht, es hier gar nicht mit einer Dystopie, sondern mit der Realität des Scheiterns einer Ordnung der Polizei zu tun zu haben, als deren Hauptakteure ironischerweise überforderte Polizisten zurückbleiben. Das Guckloch, durch das man andere Phänomene dieser Tage – zum Beispiel den Typus des „aufräumenden Bürgers“ – betrachten kann, hat Cauty nicht anbringen können. Es wäre dann wohl auch ein unlösbares Perspektivenproblem aufgetreten. Nils Schuhmacher
Jimmy Cauty – „The aftermath disclosure principle“: bis So, 27. 8., rund um die Uhr, Hamburg, S-Bahnhof Sternschanze
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen