: Das Chaos im Gehirn
Etwa zehn Prozent aller Kinder sind von Legasthenie betroffen ■ Von Wolfgang Löhr
„Am liebsten wäre ich tot, dann kann ich keine Fehler mehr machen.“ Seine Verzweifelung und Angst kann der achtjährige Junge kaum deutlicher zum Ausdruck bringen. Er ist Legastheniker. Das Erlernen von Buchstaben und Buchstabenabfolgen, das richtige Abschreiben von Texten scheint für ihn ein unüberwindbares Hindernis zu sein. Der Grundschüler gehört zu einer zunehmenden Gruppe von Kindern, die in der Regel einen schweren Leidensweg vor sich haben. Nur in den wenigsten Fällen haben betroffene Kinder das Glück, auf verständisvolle Pädagogen zu treffen, die auch noch Kenntnisse darüber haben, wie ihnen am besten geholfen werden kann.
Sehr unterschiedlich sind die Angaben über das Ausmaß der Legasthenie. Nach Angaben des Berufsverbandes Deutscher Psychologinnen und Psychologen leiden 10 bis 15 Prozent aller Schulkinder an der Lese- und Rechtschreibschwäche, kurz LRS genannt. Andere Zahlen gehen von 4 bis 10 Prozent aus. „Ich glaube, die zehn Prozent scheinen realistisch zu sein“, meint Rita Schwark vom Bundesverband Legasthenie.
„Man muß da sehr deutlich unterscheiden, ob es sich um eine Kind handelt, daß an einer Lese- und Rechtschreibschwäche leidet, oder um einen echte Legastheniker“, erklärt Professor Tiemo Grimm vom Institut für Humangenetik an der Universität Würzburg. „Eine Lese- und Rechtschreibschwäche aufgrund eines Unfalls mit Hirnschäden zum Beispiel oder weil insgesamt die schulischen Leistungen sehr schlecht sind, muß klar unterschieden werden von einem Legastheniker, der Schwierigkeiten mit der Rechtschreibung oder dem Lesen hat“, aber ansonsten in anderen Fächern durchschnittliche oder sogar überdurchschnittliche Leistungen aufweise. Ein Wissenschaftlergremium definierte auf einer Tagung im vergangenen Jahr in Greifswald die Legasthenie als „eine neurobiologisch begründete Schwierigkeit beim Erlernen der Schriftsprache im Vergleich zum Erlernen anderer intellektueller Fähigkeiten des Betroffenen“.
Warum manche Kinder und Erwachsenen diese „Teilleistungsschwäche“ aufweisen, darüber streiten die Experten schon seit Jahrzehnten. Schon sehr frühe Arbeiten aus den fünfziger Jahren zeigen, „daß genetische Faktoren eine entscheidende Rolle bei der Entstehung dieser Behinderung spielen“, sagt Professor Grimm. Schon in den fünziger Jahren wurden Studien mit Zwillingen durchgeführt, die einen deutliche Zusammenhang zwischen Erbgut und Legasthenie aufzeigten. Bei eineiigen Zwillingen, die beide die gleiche genetische Ausstattung haben, lag die Wahrscheinlichkeit, daß beide unter einer Lese- und Rechtschreibschwäche litten, bei 90 Prozent. Bei Zweieiigen hingegen nur bei etwa 30 Prozent.
„Seit 15 Jahren hat man jetzt nun die Möglichkeit, auch gezielt mit molekularbiologischen Methoden nach den entsprechenden Genen zu suchen“, erläutert Grimm, „im vergangen Jahr konnten wir zusammen mit anderen Forscherteams als erste auch den Nachweis erbringen, daß das Chromosom 15 sowohl an der Lese- als auch an der Rechtschreibschwäche beteiligt ist.“ Ausgeschlossen werden kann jedoch, daß nur ein einziges Gen dafür verantwortlich ist. Eine andere Arbeitsgruppe hat auch eine Beteiligung des Chromosoms 6 ausgemacht. Für den Würzburger Professor ist klar, daß es sich um einen sehr komplexen Vorgang handelt, der zu der Lernbehinderung führt. „Da können auch Umweltfaktoren eine Rolle spielen und noch andere unbekannte Auslöser beteiligt sein.“
Für das einzelne Kind ist es allerdings uninteressant, welches Gen betroffen ist. „Für die Betroffenen kommt es darauf an, daß beste pädagogische Konzept zu finden“, so Grimm, „um ihnen zu helfen.“ Für den Wissenschaftler, der als Vater selbst von der Legasthenie betroffen ist, ist es wichtig, daß den Kindern geholfen wird, unabhängig davon, ob die Ursache in den Genen liegt.
Für die Kinder kommt es darauf an, daß ihre Legasthenie möglich früh diagnostiziert und ihnen Fördermaßnahmen in der Schule angeboten werden. Doch in den meisten Bundesländern mangelt es vor allem an Pädagogen, die sich mit Legasthenie auskennen. Am besten ist die Versorgung derzeit noch in Mecklenburg-Vorpommern. Dort habe man es frühzeitig geschafft, das System von sogenannten LRS-Klassen über die Wende hinwegzuretten, berichtet Schwark vom Bundesverband Legasthenie. Zusammen mit neueren Konzepten aus den alten Bundesländern habe man dort die in Deutschland bisher beste Unterstützung für Legasthenikern aufgebaut.
Erschreckend und vielfach unbekannt ist auch, daß viele Betroffene, denen in jungen Jahren keine besondere Betreuung geboten wird, später mit dem Gesetz in Konflikt kommen. „Etwa 25 Prozent“, so Professor Grimm, „stehen später einmal vor einem Jugendrichter“. Und rund 40 Prozent bekommen psychische Probleme. Sie würden einfach mit dem Konflikt nicht fertig, daß sie eigentlich was leisten wollten und auch könnten, aber nicht anerkannt werden, sagt Grimm. Viele bekommen Depressionen oder begehen Selbstmord.
Betroffene erhalten Informationen und Adressen von regionalen Beratungsstellen beim Bundesverband Legasthenie e.V., Königstraße 32, 30175 Hannover, Tel. (0511) 318738
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