Darmstädter Debakel: Die Lilien wurden gerupft
Mit 0:6 geht der SV Darmstadt 98 zu Hause gegen den FC Augsburg unter. Zur sportlichen Demütigung gesellten sich Spott und Häme.
Es passiert nicht oft, dass die ersten Zuschauer schon Mitte der ersten Halbzeit das Stadion verlassen. Am Darmstädter Böllenfalltor, bei der historischen 0:6-Klatsche gegen den FC Augsburg, war es am Samstag so. Und man konnte es ihnen nicht wirklich verdenken. Fragwürdiger hingegen, was nach dem Schlusspfiff geschah. Die Ultras, die den Support Mitte der ersten Hälfte eingestellt hatten, sandten einen Vertreter auf den Rasen, der die Mannschaft minutenlang wild gestikulierend anbrüllte.
Zu viel der Selbstdarstellung, wie wiederum die älteren Herren auf der Gegengerade fanden, die mehrheitlich seit Jahrzehnten das „Bölle“ bevölkern. Deren „Halt die Fresse“-Rufe in Richtung Ultra-Führer mündeten dann in ein kurzes Scharmützel zwischen älteren und jüngeren Fans. Die Ansprache an die Mannschaft sah aus der Ferne indes wohl aggressiver aus, als sie war, berichtete Torwart Marcel Schuhen: „Das waren emotionale und klare Worte, aber nullkommanull Prozent aggressiv.“ Auch vom Rest des Stadions hörte man viele aufmunternde „Lilien“-Rufe für den Auf- und mutmaßlichen Absteiger.
Über den ließ sich diesmal allerdings nicht die Geschichte vom David mit der Steinschleuder erzählen, der sich gegen das vermeintlich Unbezwingbare stemmt. „Fehler hier, Fehler dort, Blackout hier und da, die erste Halbzeit hat gefühlt drei Stunden gedauert“, seufzte der bedauernswerte Schuhen. Nach nicht einmal einer halben Stunde stand es bereits 5:0 für Augsburg, ein Tor war dabei auf groteskere Art gefallen als das andere.
Den ersten Augsburger Treffer durch Philip Tietz legte der in der ihm vergönnten Spielzeit von 27 Minuten komplett überforderte Verteidiger Jannik Müller mit einem schlimmen Fehlpass vor, beim 0:3 durch Ermedin Demirovic erlief der FCA-Stürmer einen viel zu kurzen Rückpass von Klaus Gjasula. Und auch vor den anderen drei Treffern durch Fredrik Jensen (12.), Ruben Vargas (24.) und erneut Demirovic (29.) gab es schlimme Ballverluste, die die Augsburger Offensive ohne größere Mühe ausnutzte.
Rüdiger Fritsch, Präsident von Darmstadt 98
Das 0:6 durch Tietz (84.) war dann der Epilog zu einem Spiel, bei dem auch das Zuschauerverhalten für Darmstädter Verhältnisse außergewöhnlich war. Nach dem 0:4 zeigten sich Wut und Fassungslosigkeit, es gab Pfui-Rufe und hämischen Applaus, wenn doch mal ein Pass ankam oder Augsburgs Keeper Finn Dahmen einen Kullerball aufnahm.
„Erhobenen Hauptes“ weiterspielen
Nein, einen solchen Tag habe er als Profi auch noch nicht erlebt, erzählte Dahmen später. Zum Spiel nur so viel: Darmstadt habe „etwas unglücklich agiert.“ Drastischer drückte sich Lilien-Präsident Fritsch aus: „Es ist doch klar, dass die Zuschauer da nicht vor Freude Luftballons steigen lassen. Das war heute ein Albtraum, so katastrophal, dass es eine normale Spielanalyse gar nicht hergibt.“ Das traf so zu.
Der Tabellenletzte war eigentlich sogar zu schlecht, als dass man die Augsburger Leistung fair hätte bewerten können. Die taten konsequent genau das, was wohl jedes Profiteam gegen eine solche Defensive getan hätte: Sie liefen die Darmstädter früh in deren Hälfte an und erzeugten dadurch im ersten Durchgang immer wieder ähnliche Bilder, wie sie entstehen, wenn es ein Fuchs in den Hühnerstall geschafft hat. Augsburg belegt nun Platz zehn und hat mit einem Male eine recht ordentliche Tordifferenz von minus zwei.
In Darmstadt herrschte hingegen nach dem Schlusspfiff eine schwer zu fassende Stimmung. Es gab sie, die gutgelaunten Fans, die vor der „Lilien-Schänke“ ihr Feierabendbier genossen. Es gab ältere Fans, von denen viele über das als anmaßend empfundene Verhalten der Ultras diskutierten. Und eine Gemeinsamkeit gab es dann auch. Dieses 0:6 dürfte sich ins kollektive Gedächtnis als einziges Spiel dieser Saison einbrennen, bei dem Darmstadt 98 nicht nur verlor, sondern sich der Lächerlichkeit preisgab. Zweiteres ist für einen Fan deutlich schwerer zu verdauen.
Vor diesem Spieltag hatte der Kicker eine Umfrage veröffentlicht, wonach noch 2,1 Prozent der Leser an den direkten Klassenerhalt der Lilien glauben. Die 17.810 Zuschauer, die Augenzeugen dieses Spiels wurden, dürften diesen Wert erstaunlich hoch finden, obwohl es nach wie vor nur vier Punkte Rückstand auf den Relegationsrang sind.
Trainer Torsten Lieberknecht, der nach dem Spiel mitgenommen wirkte, versprach derweil, man werde die Saison „erhobenen Hauptes“ weiterspielen. Genau dazu hätte der Ultra-Vertreter das Team auch aufgefordert. Lieberknecht selbst steht – dieser Hinweis nur der Vollständigkeit halber – nicht zur Disposition. Präsident Fritsch konterte eine entsprechende Frage schlüssig: „Da hätten heute auch Klopp oder Guardiola an der Linie stehen können, wäre alles genauso passiert.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Angriffe auf Neonazis in Budapest
Ungarn liefert weiteres Mitglied um Lina E. aus
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Mangelnde Wirtschaftlichkeit
Pumpspeicher kommt doch nicht