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Dagrun Hintze über Verdichtung„Lyrik macht die Welt kostbarer“

Mit „Einvernehmlicher Sex“ hat Dagrun Hintze einen fulminanten Gedichtband geschrieben. Ein Gespräch über das Altern und Schäden an der Sprache.

Kann sich schlecht Sachen ausdenken: Schriftstellerin Dagrun Hintze Foto: Miguel Ferraz
Interview von Frank Keil

taz: Frau Hintze, wie schafft man es, einen so wunderbaren Lyrik-Band zu schreiben?

Dagrun Hintze: Oha, was sage ich jetzt dazu! Also: Ich denke, dass die meisten Menschen, wenn sie anfangen zu schreiben, mit Lyrik beginnen. Die meisten von uns haben vermutlich irgendwelche schlimmen Pubertätsgedichte, wo sie sich das Herz herausgerissen haben, im Giftschrank liegen. Lyrik ist die ursprünglichste Form, über die Menschen sich schriftlich äußern, wenn sie eine literarische Form suchen – und das war bei mir auch so. Es gibt eine lange Geschichte mit mir und der Lyrik und wenn ich mein Selbstverständnis beschreiben sollte, dann ist es das einer Lyrikerin, wahrscheinlich sogar mehr als das einer Theatermacherin, die ich ja auch bin. Insofern bin ich da ganz bei mir selbst – wenn man so eine schreckliche Formulierung wählen möchte.

Was kann Lyrik?

Sie kann den Moment festhalten, und sie kann ein Gefühl festhalten, das in diesem Moment das Absolute und auch das Überwältigende ist. Darin ist Lyrik unschlagbar. Sie geht manchmal auch sehr geniale Verbindungen mit der Musik ein – in Form eines Textes für einen Song. Und sie kann das Alltagsleben erhöhen; Lyrik macht die Welt ein bisschen kostbarer.

Für Ihre Gedichte muss man nicht Goethe gelesen haben oder mindestens Ingeborg Bachmann. Man denkt: Hey, was da beschrieben wird, das kenne ich …

Das war auch die Idee. Als ich mit Lyrik anfing, habe ich schon an diesem hohen Ton herumprobiert – das finde ich auch legitim. Ich habe nur irgendwann gemerkt, dass mir persönlich diese Lyriklesungen auf die Nerven gehen, wo alle anderthalb Minuten abgesetzt und umgeblättert und ein Schluck Wasser getrunken wird. Ich suche eine gewisse Selbstverständlichkeit in der Literatur. Lyriker wie Charles Bukowski haben mich immer sehr fasziniert, die auch mal aus dem dreckigen Alltag kommen. Wobei die Alltagssituation überhöht werden muss, sie muss zur Metapher werden. Auf dem Weg dahin produziert man eine Menge Ausschuss, weil nicht alles, was man gerade fühlt oder erlebt, auf dem Papier am Ende standhält.

Beim Titel Ihres Buches – „Einvernehmlicher Sex“ – musste ich sofort an die #MeToo-Debatte denken …

Ich hatte eigentlich einen feuilletoneskeren Titel im Kopf, aber dann hat einer meiner Verleger den Titel mal in die Runde geworfen, weil eines der Gedichte so heißt. Wir haben uns erst mal erschrocken, und ich sagte: „Auf gar keinen Fall!“ Das war mir viel zu knallig, viel zu kaperig. Aber dann hat sich der Titel irgendwie verhakt – bei uns allen. Der Gedichtband ist nicht im Zusammenhang mit der #MeToo-Debatte entstanden, aber wir erleben da schon eine weibliche Erzählerin, die sich sehr klar in jeder Situation behauptet und souverän bleibt. Von daher finde ich es gar nicht so verkehrt, die Texte auch in diesem Kontext zu denken.

Ihre Heldin ist knapp unter der Lebensmitte. Das Leben war bisher gut – aber die Frage ist: Was kommt? Liege ich mit der Lesart richtig?

Es wird in der Tat eine Art Resümee gezogen: Die erste Hälfte hat sie mit Anstand und Würde bewältigt. Aber wie jetzt Älter-werden geht, ob am Ende das Anlachen gegen den Tod funktioniert, was ich tatsächlich als einziges Mittel sehe, das uns zur Verfügung steht? Wird es noch mal lustig? Oder eher nicht?

Sie schreiben „Auf der Mitte des Lebens kann Liebe/verdammt beunruhigend sein.“ Liebe ist schon ein Thema, oder?

Was Lyrik angeht, ist das jetzt nicht so überraschend, würde ich sagen. In meinen Gedichten geht um verschiedene Formen von Liebe, um tiefe Freundschaft, Verbundenheit, Verbindlichkeit. Und um die Kollision einer Lebensform, die man gefunden hat und die gut ist, mit den Angriffen von außen, vom Leben selbst. Das Tolle an meiner Erzählerin ist, dass sie das zulässt. Ich glaube, in jedem von uns steckt der Wunsch nach Sicherheit und Verlässlichkeit, aber auch die Sehnsucht nach Abenteuer, nach Neuem, nach: alles Umkrempeln.

Die Frage bleibt immer: Wie sehr beschädigt man seine eigene Sprache, wie hält man es mit der Unkorrumpier­barkeit, die man haben muss als Künstlerin?

Wie privat sind Ihre Gedichte?

Sagen wir es so: Ich breite mein Leben nicht in Form von Gedichten aus; das ist auch nicht das, was mich interessiert. Aber die Erfahrungen, von denen ich schreibe, sind echt – ob sie von mir stammen oder ob ich sie irgendwo aufgeschnappt habe, ist unwichtig. Was gilt: Ich kann mir sehr schlecht Sachen ausdenken. Und hege eine große Skepsis gegenüber der Fiktion. Deswegen könnte ich nicht über etwas schreiben, das mir nicht in irgendeiner Form ins Leben gepoltert wäre.

Noch mal ein Zitat: „Wer tagsüber Servicetexte fürs Internet schreibt/ zu dem kommt abends kein Gedicht.“ …

Ja – das ist so. Ich mag diese Zeilen sehr, weil sie geradezu manifesthaft etwas über künstlerische Produktion aussagen. Ich zum Beispiel bin jetzt seit 20 Jahren in Hamburg und seit 20 Jahren selbstständig. Es wäre eine romantische Vorstellung, man käme 20 Jahre durch so einen Beruf, ohne für Geld auch irgendwelchen Mist machen zu müssen. Ich habe alles Mögliche gemacht, für Werbeagenturen getextet, unter Pseudonym für die Yellow Press geschrieben – einfach um mein Leben zu bestreiten. Trotzdem bleibt immer die Frage: Wie sehr beschädigt man seine eigene Sprache, wie hält man es mit der Unkorrumpierbarkeit, die man haben muss als Künstlerin? Ich finde es grundsätzlich gut, wenn KünstlerInnen Realitätskontakt haben, wenn sie wissen, wie eine Werbeagentur von innen aussieht und wie sie funktioniert – gleichzeitig hat das seinen Preis. Worauf lässt man sich da ein? Wo verbiegt man sich? Und was hat das für eine Rückwirkung auf das eigene Schreiben?

Im Interview: Dagrun Hintze

47, ist in Lübeck geboren und lebt in Hamburg. Sie schreibt Theaterstücke, Lyrik, Prosa und Essays und publiziert außerdem über zeitgenössische Kunst und Dokumentartheater.2017 erschien im Mairisch-Verlag ihr Buch „Ballbesitz“ über Frauen und Fußball.

Sie sind auf vielen Feldern unterwegs: Lyrik und Theater, Sie schreiben über bildende Kunst und über Fußball. Gibt es etwas, was der Kern ihres Interesses an der Welt ist?

Ich bin schon sehr Neugier-getrieben. Da kommt mir das dokumentarische Theater, für das ich meistens arbeite, natürlich sehr entgegen. Weil es mich bei der Recherche immer wieder in Welten führt, die ich sonst nie betreten hätte. Außerdem schätze ich die Arbeit im Kollektiv, im ständigen künstlerischen Austausch mit Leuten, die einem zwischendrin natürlich auch wahnsinnig auf die Nerven gehen. Die Existenz der Lyrikerin ist eine völlig andere. Die sitzt allein am Schreibtisch und versucht, Erfahrungen, die sie draußen in der Welt gemacht hat, zu verdichten. Ich glaube, ich brauche beide Zustände. Gerade habe ich eine Phase, wo ich bis Mai nur am Schreibtisch sitzen kann, wahnsinnig angenehm. Andererseits: Ich bin schnell anfixbar. Es muss nur eine Handballweltmeisterschaft laufen – und ich fange an, mich dafür zu interessieren.

Lassen Sie uns über Lübeck reden; diese entschleunigte, angenehme, kleine Stadt …

Ach …

Ich merke schon …

Das Hinwenden zu einer kleineren Stadt kenne ich natürlich, weil einem das Großstadtgetöse immer mehr die Luft nimmt. Also: Ich bin gerne in Lübeck aufgewachsen, ziemlich bürgerlich, war auf einem der Altstadt-Gymnasien, mein Schulweg führte jeden Tag an der Marien-Kirche vorbei. Ich habe das immer als Privileg empfunden, jeden Tag mit Schönheit und Tradition konfrontiert zu sein. Das war schon alles okay: Theater-Abo, Klavierunterricht, Thomas Mann lesen. Aber gleichzeitig habe ich mir sehr hart erarbeiten müssen, was Gegenwartskultur ist. Dafür habe ich eigentlich das ganze Studium gebraucht. Und das laste ich auch dieser Stadt ein bisschen an.

Aber nach dem Studium sind Sie zurück ans Lübecker Theater gegangen. Wie war das?

Da lebte man raumschiffartig. Wir waren alle jung und wollten ganz viel vom Theater, da hat man die Stadt drumherum gar nicht so wahrgenommen. Wenn ich heute dort bin, rührt mich das schon an, diese wahnsinnig schönen Kirchen, die Altstadt-Insel. Gleichzeitig wirkt die Stadt auf mich ganz schön marzipanisiert, übersaniert, zu sehr als Kulisse für Touristen gedacht wie so viele Städte. Da kann einem dann auch mal eng ums Herz werden. Trotzdem verstehe ich die Kleinstadtsehnsucht, die gerade grassiert, gut: Ich war jetzt schon zwei Mal in Aalen auf der Schwäbischen Alb, um da Theater zu machen, eine wirklich kleine Stadt; wahrscheinlich würde man es dort keine zwei Monate aushalten und die Flucht ergreifen, wenn man dort wohnen müsste. Aber diese Kultur, Samstag ist Markt und dann geht man einen Kaffee trinken und trifft alle Leute, die man kennt, das hat schon was; das sind wichtige Rituale für eine Stadtgesellschaft, das hält den Laden zusammen.

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